Konkrete Utopie

 Nicht

von
Volker Schneider

Nicht kennzeichnet die Welt als Unfertige

  • EM = Experimentum Mundi
  • PH = Prinzip Hoffnung
  • SP = Spuren

"Ich bin, aber ich habe mich nicht, darum werden wir erst."

Das Nicht ist zentral für Blochs Verstehen der Welt als unfertige, als Frage und Experiment. Die Not der Objektivität, ständig den absoluten Fragen ausweichen, Unzulänglichkeiten in der Vollständigkeit zugestehen und begründen zu müssen, löst er durch die Annahme, dass eben noch nichts entschieden und endgültig sei. Die Wahrheit und objektive Sicht der Realität bedeutet dann: Wir nähern uns der Welt, sind in der in der Geschichte in Bewegung und treffen an den Rändern unserer Praxis, an den Stellen der Entscheidungen auf etwas, das noch seiner Umsetzung und Verwirklichung harrt. Dieses Etwas kann als Alles oder Nichts, Paradies oder Untergang in unseren Vorstellungen und Hoffnungen aufgefunden werden: die Option des verwirklichten oder des misslungenen Lebens.

Nicht ist Anfang und Trieb, unbestimmt

Eine zentrale Stelle zum "Nicht" findet sich bei Bloch im zweiten Teil von "Prinzip Hoffnung": Das Kapitel heißt: "Das Nicht im Ursprung, das Noch-Nicht in der Geschichte, das Nichts oder aber das Alles am Ende." Hier werden die Begrifflichkeiten Nicht und Nichts erklärt und voneinander abgegrenzt. Das Nicht ist immer der Anfang einer Bewegung und damit ein Unbestimmtes: "Als solches hält es das Nicht bei sich nicht aus, ist vielmehr aufs Da eines Etwas treibend bezogen. Das Nicht ist Mangel an Etwas und ebenso Flucht aus diesem Mangel; so ist es Treiben nach dem, was ihm fehlt." (PH 356)

Nichts ist bestimmte Vernichtung Das Nichts ist dagegen ein Bestimmtes, sein Akt die Vernichtung. Es bleibt das negative Staunen: "Nicht und Nichts müssen zunächst so weit voneinander gehalten werden wie möglich, das ganze Abenteuer der Bestimmung liegt zwischen ihnen." (PH 356f) Das Nicht ist demnach nicht auf das Nichts aus, sondern treibt in die entgegensetzte Richtung: "Das Nicht ist freilich die Leere, aber zugleich der Trieb, aus ihr auszubrechen; im Hunger, in der Entbehrung vermittelt sich die Leere gerade als horror vacui, gerade also als Abscheu des Nicht vor dem Nichts." (PH 357)
Nicht und Heimat Das Nicht ist kein Nichts (Vereitlung), sondern Start zum Anfang, Beginn einer anderen, besseren Welt, deren Hoffnung uns beflügelt gegen das Negative, Hunger, Elend, Entfremdung zu kämpfen. Das Nicht ist der antreibende Faktor in der Welt als Experiment. "Heimat" - das letzte Wort des "Prinzip Hoffnung" - gibt es erst, "wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen." (PH 1628) Die rechte Erschaffung der Welt steht daher noch aus.
Nicht und Praxis Das Nicht ist kein Nichts, sondern charakterisiert unsere Stellung in der Welt als Zünglein an der Waage zwischen Elend und Hoffnung. Das Nicht ist gebunden an unsere Praxis. Es identifiziert uns selbst als Wartende, Handelnde, Zuständige für den Lauf der Dinge. Es ist noch Leere, Möglichkeit, Mangel an Etwas … Und dieser Mangel, den wir selbst als Nicht-Haben, als Fehlendes, Fehlerhaftes empfinden, treibt uns zur Tat: Praxis. "Was sich nur befindet, bleibt dumpf, findet sich nicht (...). Dieses anfangende Nicht und was es sucht, kommt in uns Menschen hoch, wie nirgends sonst. Wir sind uns selber übersteigend, aber auch alles in unserem Umkreis. Nichts darin ist einfach gegeben, alles darin uns aufgegeben. Undeutlicher, folglich deutlicher als irgendetwas ist der Mensch das Unfertige schlechthin." (EM 172)
Nichts und Alles

Wir haben es also in der Hand, unser Schicksal und auch das der Welt. Das Negativ, Zerstörerische bleibt unser Prüfstein und Gegner. Eine Heilsgewissheit gibt es nicht. Die Hoffnung auf ein gutes Gelingen ist Prinzip, aber keine Garantie. "Wo Gefahr ist, wächst das Rettende doch auch, das ist die beste Hoffnung, doch wo das Rettende ist, wächst auch die Gefahr, das gehört gleichfalls zum Ende und macht die geprüfte Hoffnung aus, die keineswegs bereits garantierte, sondern eben militante, auf das Nichts ebenso feindselig visierte wie auf das Alles radikal verwandt hinzielende." (EM 238)

Spuren Schluss: "Man sieht auch hier: wie es keinen rechten Weg gibt ohne Ziel, so auch kein Ziel ohne die Kraft eines Wegs zu ihm hin, ja eines im Ziel selber aufbewahrten. Sehe man drum hier und jetzt sich um, mit tätig gesetzter Zeit im tätig umgebauten Raum; die Spuren des sogenannten Letzten, ja auch nur wirklich Gewordenen sind selber erst Abdrücke eines Gehens, das noch ins Neue gegangen werden muß. Erst sehr weit hinaus ist alles, was einem begegnet und auffällt, das Selbe." (SP 220)
Nicht als Weg Das Nicht ist kein Nichts, aber das Nichts ist gegenwärtig und bedarf unserer Gegnerschaft, nur militante Hoffnung hilft voran. Das Nicht ist Leere, aber eine gärende, eine unfertige. Und wir sind verantwortlich für seinen Weg. Es ist unser Weg.