Prinzip Hoffnung

 Praxis

von
Horst Müller
Praxis meint das Sein des Menschen und ist Objektivitätsgehalt des Bewusstseins
  • EM = Experimentum Mundi
  • PH = Prinzip Hoffnung
Ernst Blochs Werk enthält den denkbar weitestgehenden Entwurf einer Philosophie des Menschen, der Gesellschaft und Geschichte, wir können auch sagen: der Praxis. Praxis in diesem Sinne schließt die ganze Tiefe des Naturverhältnisses ein und legt sich aus bis in letzte Zukunftshorizonte: Mit "Praxis" ist das Sein des Menschen bedeutet. Dieses Praxiskonzept beinhaltet, daß der Boden des tätigen Seins auch theoretisch in keinem Moment überschritten wird: Das Kognitive erweist sich als eine "Praxis der Theorie in der Praxis" (EM 254). So werden im universellen Horizont der menschlich-gesellschaftlichen Praxis überhaupt erst alle Seinsmomente in bestimmter Weise gegenständlich, entsteht ein Objektivitätsgehalt des Bewußtseins.
Ursprung des Praxiskonzepts: die Marxschen Feuerbachthesen Bloch erkennt in Marx' Feuerbachthesen von 1845 den Geburtsort dieser integralen "Praxislehre", eines echten Novums in der Denkgeschichte. "Die Praxisbegriffe bis Marx sind also völlig verschieden von dessen Theorie-Praxis-Konzeption, von der Lehre der Einheit zwischen Theorie und Praxis", heißt es im "Prinzip Hoffnung" (PH 315).
Das Praxiskonzept als Schlüssel zu Blochs Weltprozesslehre Der dortige große Kommentar zu den Feuerbachthesen (PH 288) bereitet den Boden für das Verständnis von Blochs Weltprozeßlehre: Die Praxis bildet einen zentralen Knoten- oder Vermittlungspunkt des ganzen Geschehens. Der noch rätselhafte "Kern" der sich entwickelnden Prozeßmaterie ist darin im unmittelbaren Sinn "gegenwärtig". Schon die Frage nach dem Unmittelbarsten im "Hier" und "Jetzt" des Augenblicks wirft das Problem des zugrunde liegenden Wirklichkeitssubstrats auf:
Eine utopisch offene Prozessmaterie, mit Praxis als Frontgeschehen Allem liegt eine "utopisch offene" Prozeßmaterie zugrunde, deren wesenhafter Möglichkeitscharakter allzu oft unterschlagen wird. Ihr wird ein "Logikon" als "Realattribut" zugeschrieben. Damit ist gemeint, daß logische Aspekte bereits dem Sein des Materiellen zuzurechnen sind, also nicht nur im Kopf existieren. Darüber hinaus hypostasiert Bloch, daß in einer Tiefendimension der Materie, welche die moderne Naturwissenschaft nicht erreicht, ein subjekthafter Agenskern wirkt. Die bewußte Lebenstätigkeit, in der sich Mensch und Natur begegnen, bildet folgerichtig nur eine weiterentwickelte Stufe der "sich qualifizierenden Materie" (PH 364). Als höherer Seinsgrad der sich ausgebärenden Materie markiert die Praxis sogar die Front des Weltprozesses.
Gesellschaftliche Praxis, mit Orientierung auf    Konkrete Utopie Entscheidend für diese herausragende Stellung der Praxis ist ihr reflexiver Status. Ergab sich zunächst das "Primat der Praxis", so ist demnach zugleich ein "Prius der Theorie" anzuerkennen. Damit wird jeglichem bloßen Pragmatismus eine Absage erteilt: Die Blochsche Philosophie der Hoffnung will nichts anderes sein als die Spitze eines Begreifens der Praxis, welches die Totalität unseres naturverbundenen, gesellschaftlichen Seins erfaßt und dabei zugleich unbeirrt die Verwirklichung eines "Humanums" erstrebt, ein neues "Naturverhältnis" eingeschlossen. Die Orientierung auf Konkrete Utopie faßt dies alles zusammen.
Paradigma einer neuen (Zukunfts-) Wissenschaftlichkeit Die praxisphilosophische Realitäts- und Erkenntniskonzeption impliziert auch das Paradigma einer neuen Wissenschaftlichkeit. Bloch spricht von einer "Zukunftswissenschaft der Wirklichkeit plus der objektiv-realen Möglichkeit in ihr; all das zum Zweck der Handlung". Seinen konzentriertesten Ausdruck findet dieses unkontemplative Konzept in der Marxschen Formel von "Praxis und Begreifen der Praxis". Der hierbei intendierte Erkenntnismodus des konkret-utopischen "Begreifens" bedeutet eine grundlegende Überschreitung bloßen Erklärens, Verstehens oder auch des logischen Typus nurmehr negativer Kritik.
Der praxisanalytische Sinn der Blochschen Kategorien Indem die Praxis als Feld der Entscheidung bestimmt ist, kommt dem aktiven und kognitiven Faktor, der menschlichen Subjektivität entscheidende Bedeutung zu. Ihre Erkenntnisaufgabe in der konkreten Situation wird so umschrieben: "Der situationsanalytische Akt ist mit dem begeisternd-prospektiven untrennbar verbunden". Daher auch die Bedeutung der "Antizipation" (EM 247) in einer Lebenswirklichkeit, die nahe, ferne und letzte Horizonte aufweist, die ein Feld voller Ungleichzeitigkeiten darstellt. Zentrale Blochsche Kategorien, vor allem die Begriffe Tendenz, Latenz und Utopie, entfalten in diesem Zusammenhang ihren praxisanalytischen Richtungssinn.
Eine Invariante der Richtung, mit Weg- und Zielmarkierungen Zur Wegfindung der Praxis setzt Bloch grundlegende Markierungen. Es gilt die "Aufhebung der Entfremdung" der gegenwärtigen Gesellschaftsform praktisch durchzusetzen, ein "Reich der Freiheit" (PH 259) zu erringen und sich weiter in einer "Invariante der Richtung" zu orientieren: "Nur solche Praxis kann die im Geschichtsprozeß anhängige Sache: die Naturalisierung des Menschen, die Humanisierung der Natur" (PH 285), den "Umbau der Welt zur Heimat" (PH 334) vorantreiben. Die weitestgehende Hoffung richtet sich auf einen letzten Horizont des Geschehens, auf ein erahnbares, erhoffbares, noch nicht ausgeschlossenes "all-erfüllendes Alles" (PH 364).
Aufgaben der menschlichen Praxis im Weltexperiment Indem aber der Ausgang des Weltexperiments als offen angesehen werden muß, erscheint auch das Ende in einem "Abfallhaufen der Vereitelung" (EM 247) möglich. Diese Offenheit des Prozeßausgangs verstärkt noch die Entscheidungsproblematik der Praxis. Der darin existenziell herausgeforderte Mensch kann und soll daher letztlich sogar zur möglichen Lösung der offenen Weltfrage beitragen: Das Weltexperiment braucht den "bewußt erkennenden, an der Front des Weltprozesses stehenden Menschen als informierenden und fortbildenden" (EM 242).
Konstitutive Bedeutung der Theorie-Praxis-
Konzeption für das Blochsche Gesamtwerk
Die konstitutive Bedeutung des umrissenen Praxiskonzepts für das Blochsche Schaffen ist vor allem im Grundlagenwerk "Das Prinzip Hoffnung" belegt. Sie bestätigt sich in der systematischen Darlegung des Bandes "Experimentum Mundi", der die Werkreihe beschließt: Die letzte übergreifende "Drehung und Hebung des Gedankens" führt dort zum "Verhältnis allerzentralster Art" (EM 254), zum Abschnitt "Theorie-Praxis".
Literaturhinweise
  • Müller, Horst: Praxis und Hoffnung. Studien zur Philosophie und Wissenschaft gesellschaftlicher Praxis von Marx bis Bloch und Lefebvre. Germinal Verlag, Bochum 1986.
  • Müller, Horst: Bloch, Kofler und das Projekt einer utopisch-kritischen Wissenschaft gesellschaftlicher Praxis, in: Jünke Christoph (Hrsg.), Marxismus und soziale Bewegungen im 20. Jahrhundert. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2001.