| von Beat Dietschy |
Bedeutungen
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Der Begriff der U. verweist auf die Koexistenz verschiedener Zeiten in einer selben Gegenwart. "Ältere Zeiten als die heutigen wirken in älteren Schichten nach" (IV, 104). Das meint mehr als bloße Rückständigkeit, sind doch im Fortbestehen des Früheren auch ungewordene Zukunft und unverwirklichte Utopien enthalten. Was Bloch mit den Phänomenen der U. zu berücksichtigen anmahnt, sind Wirkweisen unerledigter Vergangenheit und verhinderter Zukunft, Widersprüche am Rande und im Umkreis der gleichzeitigen kapitalistischen Antagonismen, kurzum, ein "wildes Durcheinander unverkaufter Geschichte, auch Vorgeschichte" (IV, 116ff). Zu diesem in "Erbschaft dieser Zeit"' gesammelten heterogenen Material gehören
"Der subjektiv ungleichzeitige Widerspruch ist gestaute Wut, der objektiv ungleichzeitige unerledigte Vergangenheit." (IV, 122) "Das objektiv Ungleichzeitige ist das zur Gegenwart Ferne und Fremde; es umgreift also untergehende Reste wie vor allem unaufgearbeitete Vergangenheit, die kapitalistisch noch nicht 'aufgehoben' ist. Der subjektiv ungleichzeitige Widerspruch aktiviert diesen objektiv ungleichzeitigen, so dass beide Widersprüche zusammenkommen, der rebellisch schiefe der gestauten Wut und der objektiv fremde des übergebliebenen Seins und Bewusstseins." (IV, 117) |
Übersetzungen | engl.:
non-synchronism franz.: non-contemporanéité ital.: non-contemporaneità span.: no-contemporaneidad |
Realhistorische Kontexte | Die Kategorie U. ist Teil eines Versuchs der Kritik und umfunktionierenden Aneignung "spätbürgerlichen Zeitinhalts", den Bloch angesichts des heraufkommenden Nationalsozialismus der zwanziger und beginnenden dreissiger Jahre in "Erbschaft dieser Zeit" unternimmt. Das im Herbst 1934 in Zürich publizierte Buch untersucht vor allem im zweiten Teil zeitfremde Widersprüche, in der Gegenwart fortwirkende, unerledigte Vergangenheit und darin eingekapselte "Schlupf- und Wetterwinkel irrationaler Art" (IV, 20). Ein zentrales, 1932 verfasstes Kapitel des Werks reflektiert diese zweideutige Erbmasse unter dem Titel "Ungleichzeitigkeit und Pflicht zu ihrer Dialektik". Sein Ziel ist ein doppeltes: die Antriebe und Motive zu klären, die den Faschismus zum "schiefen Statthalter der Revolution" (IV, 164) machen, und eingreifendes Denken im Bereich der politischen Kommunikation wie des tieferen "kulturellen Grundwasses". "Das Konzept ‚Ungleichzeitigkeit' impliziert Diskursmontage des ‚Ungleichzeitigen' und "Übergleichzeitigen' in kulturrevolutionärer Absicht; es bedeutet Intervention in das Funktionieren hegemonial wirkender ideologischer Anrufungen und Basteln an einer anderen interdiskursiven Formation, die einen ‚Block' (Gramsci) antihegemonialer Praktiken mithervorbrinmgen und organisieren soll" (W. Korngiebel, 220f). "Deutschland ..., dem bis 1918 keine bürgerliche Revolution gelungen war, ist zum Unterschied von England, gar Frankreich das klassische Land der Ungleichzeitigkeit, das ist, der unüberwundenen Reste älteren ökonomischen Seins und Bewusstseins." (IV, 114f) |
Werkgeschichtliche Kontexte | Zur Genealogie des Begriffs in Blochs Werk: Es können grob drei Entwicklungslinien in Blochs Denken unterschieden werden, die schliesslich in die Konzeption der Ungleichzeitigkeit münden, wie sie in "Erbschaft dieser Zeit" vorliegt: eine erste Linie, die mit der Sphärenbildung in einem geschichtsphilosophischen System zusammenhängt und in seiner Dissertation (1908) sowie im "Geist der Utopie" (1918) zu beobachten ist, eine zweite, die mit der Entdeckung des "Noch-Nicht-Bewussten" und dem "Dunkel des gelebten Augenblicks" verbunden ist, und schliesslich eine dritte Linie explizit gesellschaftspolitischer Reflexion, in deren Zentrum das wiederholte Misslingen einer Revolution in Deutschland steht. |
Verwandte und damit verbundene Begriffe | Gleichzeitigkeit: das kapitalistische Produktionsverhältnis mit seinem Antagonismus von Kapital und Arbeit. Übergleichzeitigkeit: das "Morgen im Heute" (IV, 213), "im Jetzt enthaltene Zukunft ... technische Wohltat, ... neue Gesellschaft, womit die alte in ihren Produktivkräften schwanger geht" (IV, 122). Multiversum: im Spätwerk nimmt Bloch in kritischer Auseinandersetzung mit dem Historischen Materialismus "Differenzierungen im Begriff Fortschritt" (Vortrag von 1955) vor, in denen das Konzept der Ungleichzeitigkeit im Blick auf die Vielstimmigkeit und Multilinearität geschichtlicher Prozesse reinterpretiert wird. "Geschichte ist kein einlinig vorschreitendes Wesen, worin der Kapitalismus etwa, als letzte Stufe, alle früheren aufgehoben hätte; sondern sie ist ein vielrhythmisches und vielräumiges, mit genug unbewältigten und noch keineswegs ausgehobenen, aufgehobenen Winkeln." (IV, 69) |
Rezeption und Aktualität | Das neoliberale Globalisierungsprojekt, das gegenläufigen Abwehr- und Regressionsformen ethno-nationalistischer Art neuen Auftrieb verleiht, zeigt: zumindest unter dem Diktat kapitalistischer Hegemonialstrategien gelingt keine alles einschliessende Gleichzeitigkeit. Die abstrakte Totalität der heutigen Weltgesellschaft erweist sich wieder als "Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem", als mit sozial-ökologischem Ausschluss erkaufte Ordnung und eine Gemengelage von Widerstreitendem. Kritische Erbschaft von Ungleichzeitigem tut weiterhin not. |
Kritik | Die Rede von einer Dialektik "ungleichzeitiger Widersprüche" ist klärungsbedürftig. Zu differenzieren wäre zwischen Zeitfremdem und Widersprüchlichkeit, zwischen Widerstand, Widerspruch und Differenz. |
Fragen | In welchem Verhältnis steht die Kategorie Ungleichzeitigkeit zur marxistischen Theoriebildung? Stützt, erweitert oder sprengt sie das Korsett des historischen Materialismus? |
Literaturhinweise |
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