Logos der Materie. Eine Logik im Werden. Aus dem Nachlaß 1923-1949

Rezension des gleichnamigen von Gerardo Cunico herausgegebenen Buches

Veröffentlicht im Widerspruch. Beiträge zur sozialistischen Politik

Wer hätte das gedacht, daß wir solches noch erleben dürfen! So, wie es nur noch wenige Großväter gibt, welche sich an die Zeit zu erinnern vermögen, in der Hertha BSC Berlin Anwärterin auf die Tabellenspitze der Fußball-Bundesliga war (wie es dieser Tage tatsächlich der Fall ist), so gibt es nur noch wenige Mitglieder der Bloch-Gemeinde, die sich daran erinnern können, wie einst Gerardo Cunico, als kundiger Ritter des Blochschen Nachlasses, auszog, die Logik-Manuskripte zu edieren. Nach dreizehn (in Worten: 13) Jahren liegt sie nun vor uns, die Blochsche "Logik", oder genauer gesagt: liegen jene Texte vor, die eine solche Logik mit konstituiert hätten, wäre sie denn von Bloch vollständig geschrieben worden.

Zum Zeitablauf vermerkt der Herausgeber nur lapidar die allen offenkundige Faktizität: "Im Sommer 1986 habe ich im Ernst-Bloch-Archiv der Universitätsbibliothek Tübingen Blochs Nachlaßbestände gesichtet ... Im Sommer 1987 habe ich diese [als Logik rekonstruierten] Texte fast vollständig abgeschrieben und angefangen, sie zum Druck vorzubereiten." (Nachwort, Anm.13, S.455, H.v.m.) Um es gleich vorwegzunehmen: Das vorliegende Ergebnis dieser Bemühungen ist mehr als zufriedenstellend, es ist tatsächlich außerordentlich gut gelungen. Daraus freilich sollten wir nicht schließen, daß sich mithin das lange, ungeduldige Warten gelohnt habe: Es gibt vielmehr immer noch die vernünftige Einschätzung dessen, was nach Maßgabe des Gegebenen als angemessen zu gelten hat.

Davon abgesehen aber, bestätigt sich von der ersten Zeile an, was ohnehin seit langem abzusehen war: Nicht nur stützen die nunmehr veröffentlichten Texte aus dem Nachlaß manche systematische wie methodische Vermutung, welche angesichts der vorliegenden Werke im großen Kontext Blochscher Philosophie zu erwarten stand. Vielmehr erweist sich nun auch im Detail der noch unveröffentlichten Konzeption der allumfassende Ausgriff einer Blochschen Logik, die durch das 1975 herausgegebene Werk "Experimentum Mundi" nur sehr unvollständig widergespiegelt worden ist. Fast liegt es nahe zu vermuten, daß der Suhrkamp-Verlag seinerzeit vielleicht erhebliche Kürzungswünsche geltend gemacht hat, denn in verschiedenen Passagen des nunmehr Herausgegebenen erfahren wir weit mehr (und Interessanteres) als in "Experimentum Mundi" schließlich ersichtlich geworden ist. Das gilt vor allem für die Ausführungen zur Kategorienlehre, im Vorliegenden namentlich im Hauptteil des "Prager Manuskripts" von 1937 [VII: Ausführung der Kategorienlehre. Organisationskategorien der Materie.], in den Abschnitten 7 und 8 (S.225 – S.235), allerdings auch für die Ausführungen zur Kategorie "Zeit" (Abschnitt 21, S.266 – S.275). Wir kommen noch darauf zurück.

Die Teile dieser über ein Vierteljahrhundert hinweg entwickelten Logik sind vom Herausgeber nicht chronologisch geordnet worden, sondern nach Maßgabe eines von ihm rekonstruierten, möglichen Inhaltsverzeichnisses der von Bloch angestrebten "Logik". Diesem Vorgehen muß vorbehaltlos zugestimmt werden, denn das Ergebnis besteht in einer schlüssigen Komposition von im gesamten Nachlaß verstreuten Fragmenten, welche imstande ist, den Lesern die Blochsche Gesamtkonzeption auf derart konsistente Weise aufzuschließen und darzulegen, daß es verlockend erscheint, die rund 450 Seiten des Textkonvolutes für das geplante Werk selber zu nehmen. Dazu kommt ein sehr sorgfältig erstellter Apparat von weiteren rund 200 (freilich überwiegend kleingedruckten) Seiten, aufgeteilt in "textkritische Anmerkungen" und "sachliche Erläuterungen". In den letzteren sind vor allem zahlreiche, ansonsten nur verstreut zugängliche, Primärquellen bezeichnet worden, welche sich einer wissenschaftlichen Bearbeitung als sehr förderlich erweisen dürften. Die Zusammenstellung der insgesamt zehn Teile (mit dem Teil VII als dem "Prager Manuskript" im engeren Sinne dabei als dem umfangreichsten) des Konvolutes (den Kommentar mit eingeschlossen) erweist sich mithin als ein durchaus homogener und in sich geschlossener, bei erster Durchsicht zugleich konsistent strukturierter Block, der auch eine auf das übrige Werk Blochs ausgreifende Bezugnahme gestattet. Das kurzgehaltene und nüchterne Nachwort des Herausgebers (451 – 467) faßt Hauptpunkte des Konvoluts treffend zusammen, und es ist weiterhin positiv zu vermerken, daß sich der Herausgeber im übrigen (nicht nur in diesem Nachwort) bescheiden im Hintergrund hält.

Darüber hinaus finden sich viele, interessante Fundstellen zu wesentlichen Themen: etwa eine frühe Erwähnung des Emergenzbegriffs (151) und des Begriffes vom "Multiversum" (225), explizite Ausführungen zur Materie (168f.), zur Ökonomie mit Blick auf die Natur (193, 432f.), zu Galilei (231), zum Zeitbegriff (267f.), zu Schelling (373), zum Montagebegriff (377), zu den Realchiffern (419f.). Die letzteren betreffend sind auch die ausführlicheren Darlegungen im Hauptabschnitt VIII (Unterabschnitt: Zahlen und utopische Figuren ...) erhellend, – wie ich meine, vielleicht sogar erhellender als jene entsprechenden in "Experimentum Mundi" (vgl. EM 218-223). Neue Aspekte werden zudem (sogar von Beginn der ersten Entwürfe und einleitenden Bemerkungen an) mit Blick auf eine immer noch ausstehende (einst von der Klymene-Gruppe unternommene) "Strukturforschung" der Wissenschaften erschlossen (23) oder in Hinsicht auf das praktische Verhältnis von Vernunft und Phantasie (68, 72).

Verstärkter Aufmerksamkeit bedürfen insbesondere – und damit kommen wir auf die frühere Andeutung zurück – die zentralen Abschnitte über die Kategorienlehre und vor allem die Kategorie der Zeit: Hier werden neue Aspekte dem bereits Bekannten hinzuzufügen sein. In der Hauptsache wird dabei der Unterschied zwischen formaler und materialer Logik erhellt, zugleich zwischen richtigem und wahrem Denken. (VII 7, 225ff.) Auch zur Widerspiegelung bzw. Abbildung im erkenntnistheoretischen Sinne gibt es neue Einsichten zu vermerken, vor allem auch im Hinblick auf die Frage, wieviel "Idealismus" noch in materialistischer Theorie enthalten ist und bleiben wird. Dies rührt an eine nach wie vor aktuelle Fragestellung, welche darauf abzielt, den Unterschied zwischen Welt und Weltengrund immer schon als selbstreferent verfaßten zu formulieren, dabei die Erkenntnisgründe wesentlich mit den Realgründen ineinsfallen lassend.

Überhaupt gibt es nur vor dem Hintergrund dieser Problematik noch immer einen Vermittlungszusammenhang zwischen Kosmologie und Ethik, derart zwar, daß in der Modellierung einer kosmologischen Insichtnahme des Ganzen der Welt spekulative Vorannahmen von vornherein mit berücksichtigt sind, welche die Modellierung selbst beeinflussen und prägen und in diesem Sinne auch auf die Interpretation der Ergebnisse und mithin auf die explizit ethischen Entwürfe als Konsequenzen daraus immer schon ausstrahlen. Ferner wird dies alles vor dem expliziten Hintergrund einer primär onto-epistemischen Verfaßtheit von Welthaftem diskutiert, etwa in der folgenden, wichtigen Passage: "Kategorien sind Daseinsgestalten, weil sie die Organisations-Gestalten des Seins-Inhalts (als der Materie) darstellen; daher bezeichnen die Kategorien ebensoviele Standformen, Mehrseins-Formen des sich entwickelnden Seins. ... ‚Seinsfülle kommuniziert derart <mit> der treibenden Inhaltsfülle der Daseinsformen ...‘" (164) In seinem Nachwort geht der Herausgeber ausführlicher auf diesen Aspekt (auch im Bezug auf 33-35 und mit Verweis auf eine Denkfigur bei Schelling) ein und schließt daraus: "Logik als Kategorienlehre zeigt sich in diesem Sinn als Theorie des werdenden Selbsterkenntnisprozesses, der zugleich den Selbstverwirklichungsprozeß der Welt bildet." (460, vgl. 457) Und das trägt ja doch eindeutige Konnotationen dessen, was von mir früher an diversen anderen Orten über den wesentlich onto-epistemischen Charakter der Blochschen Argumentation ausgeführt worden ist.

Zudem wird auch die Kategorie der Zeit als Abbildung einer konkreten Größe der welthaften Veränderung eingeführt, als die Repräsentation eines praktischen Entwicklungsraumes, in welchem sich das Welthafte auffaltet (266ff.). Dabei scheint Bloch wesentlich näher an jene Fragestellung heranzukommen, die uns heute ganz aktuell umtreibt: inwieweit nämlich Zeit selbst lediglich Ausdruck welthafter Kategorisierung (somit Metaphorisierung) ist, der auf der fundamentalen Weltebene (des Weltengrundes) abwesend ist. Und zur zelebrierten "Punktualität" heißt es bereits früh: "Das zuckende Jetzt und wieder Jetzt geht zum Erlebnis der fliessenden Zeit als der Form des Intensiven in allem über ..." (15). Das heißt, das Diskrete inmitten des kontinuierlichen Flusses von Zeit wird neuerlich aufgegriffen und unter erweiterter Perspektive diskutiert.

Im Vorliegenden kann eine ausführliche Diskussion der neuen, mit dieser Thematik verbundenen Aspekte freilich nicht geleistet werden, insofern sei hier auf weitere Ausführungen an anderem Orte verwiesen. Ansonsten können wir diese gelungene Vorlage bisher unveröffentlichter Manuskripte Blochs nur als Bereicherung unser gegenwärtigen Insichtnahme Blochscher Philosophie ausdrücklich begrüßen. Die Sorgfalt der Edition schlägt sich zudem in dem Befund nieder, daß tatsächlich (bisher) nur ein einziger Druckfehler (229: kitzlich) aufgefunden werden konnte. Übrigens ist auch die (hartgebundene) Ausgabe selbst sehr lesefreundlich und angenehm gestaltet. Es gibt also auch in der Sloterdijk-Ära noch Invarianten beim Suhrkamp-Verlag!

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Rainer E.
Zimmermann
 
 
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