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Georg Lukács und Ernst
Bloch
- Geschichte und Klassenbewußtsein
als Kristallisationspunkt
"Der Augenblick,
allen anderen eine begriffliche Verlegenheit, ist hier zum Moment der
Entscheidung, des Durchblicks in Totalität erhöht."
Ernst Bloch über Georg Lukács (1923)
"... konnten zueinander nicht
kommen"
Ernst Bloch und Georg Lukács waren Freunde. Symbiotisch
verbunden. Nicht für immer, aber der Anfang wird so charakterisiert.
Ein erster Brief von Ernst Bloch an den "Herrn Doktor von Lukács"
datiert vom 22. April 1910. Kontakt hatten sie schon vorher. Im Juli 1908
wurde Bloch in Würzburg promoviert, in Philosophie, die Nebenfächer
waren Physik und Musik. Er ging nach Berlin, zu Simmel, fast der einzige
lebende Philosoph, der ihn noch interessierte, so Bloch. Auch Lukács
war damals für ein Semester in Berlin. In Simmels Kolloquium trafen
sich die beiden 1910. Lukács war zunächst wohl beeindruckter
von Bloch als dieser von jenem. Noch kurz vor seinem Tod erinnerte sich
Lukács an diese Begegnung:
"Bloch hatte auf mich gewaltigen Einfluß, denn
er hatte mich durch sein Beispiel davon überzeugt, daß es möglich
sei, in der althergebrachten Weise zu philosophieren. Ich hatte mich bis
dahin im Neukantianismus meiner Zeit verloren, und nun begegnete ich bei
Bloch dem Phänomen, daß jemand philosophierte, als würde
die gesamte heutige Philosophie nicht existieren, daß es möglich
war, wie Aristoteles oder Hegel zu philosophieren.".
Bloch, einmal entflammt höchst begeisterungsfähig
und anhänglich, sah sich und seinen "Djoury" bald als "kommunizierende
Röhren":
"Wenn wir getrennt waren und uns dann wiedersahen
nach ein oder zwei Monaten - da konnte es vorkommen, daß ich oder
er dort anfingen zu sprechen oder zu denken, wo der andere gerade aufgehört
hatte. In der Zwischenzeit war ganz Verwandtes mit uns geschehen, obwohl
wir gar nicht miteinander gesprochen hatten, so daß wir uns, wie
wir es nannten, einen ‘Naturschutzpark der Differenzen’ bauten, indem
wir einige Gegensätze sozusagen synthetisch herstellten."
Bald jedoch mußten Gegensätze nicht mehr synthetisch
hergestellt werden. Die Phase des intensiven Briefwechsels dauerte zwar
bis 1917, Differenzen tauchten aber bereits früher auf. Lukács
datiert den Zeitraum der Freundschaft mit Bloch in seiner Autobiographie
Gelebtes Leben gar nur auf die Jahre 1909 bis 1911, mit dem Hinweis,
die Freundschaft habe gedauert, "solange Bloch in Heidelberg war".
"Dann haben wir uns getrennt, weil Bloch vor dem Krieg in die Schweiz
auswich, während ich zu Hause blieb", so Lukács zur Erläuterung
des Scheidungsgrunds. In einem Brief vom August 1916 beklagt sich Bloch:
"Ich lasse alles beiseite, auch innerlichst, was
ich von Dir in diesen anderhalb Jahren an Ausweichungen erfahren habe
und an dieser Deiner sonderbarsten Kameradschaft; Dein Verhalten ist für
mich undurchdringlich und verlangt Epoché. Aber dann kann auch
alles beiseite bleiben, was Dich an mir gestört, empört, verletzt
usw. hat, und ich kann innerlich den gleichen Bauhorizont der Kühle
diesem gegenüber und der Epoché verlangen. Aber dann sehe
ich nicht, wieso mein mir genau bekanntes und bewußtes Reifer- und
Tieferwerden in einer Linie, die Dir, d.h. Deinem apriorischen und ‘theoretischen’
Ich, verwandter sein muß als das Vorhergehende, in Dir nicht ein
erstaunliches exzeptionelles Verhältnis zu mir hervorrufen oder neu
bekräftigen muß, ebenfalls zu mir als dem apriorischen und
‘theoretischen’ Ich - ein Verhältnis, das freilich ausstrahlt und
die Kühle vertritt, so wie es bei mir Dir gegenüber jenseits
aller Irritierungen unveränderlich geblieben ist. [
...] ich habe gar kein forderndes ‘Liebesverlangen’
und habe mich gänzlich mit dem Status quo abgefunden, aber es ist
mir ein Freundschaftsproblem, um dessen Lösung ich Dich bitte. Wir
begegnen uns unaufhörlich in einem Reich, in dem außer uns
keiner, der lebt, atmen kann und das überhaupt keiner ahnt; und wenn
wir uns außen sehen, erkennen wir uns an der Farbe des Strohhuts
oder an Ähnlichem, als ob alles andere Hekuba wäre, als ob es
kein erlebbares Freimaurerzeichen gäbe."
Lukács änderte seine Einstellung nicht mehr.
Die letzte Postkarte schrieb Bloch am 20. Juni 1917 aus der Schweiz. Dann
folgten über 30 Jahre Schweigen, jedenfalls sind Briefe nicht überliefert.
Persönlich begegnet sind sich Bloch und Lukács wohl noch,
so nach einer langen Pause 1929 in Wien, wohin Bloch seiner späteren
Frau Karola Piotrkowska gefolgt war. Dort führt man "hitzige
Diskussionen und gebärdet sich nicht sehr freundschaftlich".
Auch scheint es 1932 Treffen in Berlin gegeben zu haben, von denen Karola
Bloch berichtet:
"Bei Lukács waren einmal in der Woche politische
Zirkel, an denen ich teilnahm. Aber mein Mann war nicht dabei; das ist
das Merkwürdige. Ich hatte Zutritt, weil ich eben nahe dran war,
in die Partei einzutreten - vielleicht sogar unter dem Einfluß Lukács’,
das weiß ich nicht mehr. Aber Bloch wollte nicht dem Zwang unterliegen,
den eine Partei doch sehr stark ausübt."
Am 16. Mai 1948, nach überstandenem Nazi-Inferno,
schreibt Bloch aus Cambridge, USA: "Lieber Djoury, seit wir uns zuletzt
geschrieben haben, ist der Fluß, in den man nicht zweimal steigen
kann, ein ganzes Stück weiter geschwommen". Lukács war
inzwischen Professor für Philosophie an der Universität Budapest,
Bloch schickte sich an, nach Leipzig zu gehen, woran Lukács nach
eigenem Bekunden nicht unbeteiligt war.
Die Partei hat immer
Recht?
Bloch und Lukács lehnten den Ersten Weltkrieg vehement
ab. Die unterschiedlichen Reaktionen darauf verweisen aber schon auf ein
Problem, über das sich beide niemals einig werden sollten: Wie ist
die gesellschaftliche Aufgabe des Intellektuellen? Muß er der Partei
beitreten und sich in ihren Dienst stellen? Für Lukács war
die Partei die "wirkliche Einheit von Theorie und Praxis", er
hypostasierte die Partei, spricht von "Vorrang der Herrschaft vor
der Freiheit und der Sozialisierung". Andererseits: Ist es dem Intellektuellen
zuzumuten, seine Autonomie aufzugeben, oder ist es geradezu verwerflich,
dies zu tun? Wir wissen, daß Bloch, aber auch zum Beispiel Bertolt
Brecht, nie der KP beigetreten sind. Andere haben es versucht, wie Jean-Paul
Sartre, um sich dann doch wieder zurückzuziehen. Lukács hielt
Bloch schließlich für einen utopischen Sozialisten, für
ihn selbstverständlich ein Schimpfwort, und machte, wie Karola Bloch,
die selbst Parteimitglied war, berichtet, "aus dieser Nicht-Parteizugehörigkeit
von Bloch sozusagen eine Staatsaktion ..., weil er eben Bloch für
nicht marxistisch hielt". Bloch hingegen verzieh Lukács seine
Anpassung an die Parteilinie nicht. Bloch soll folgenden Lukács-Satz
in der "Roten Fahne": "Die Minderheitenfrage hat ihr Maul
geöffnet" Karola Bloch gegenüber so kommentiert haben:
"Stell Dir mal vor, ein Mensch, der so ein Esoteriker war, der schreibt
jetzt so - das kommt alles durch die ‘Rote Fahne’, die hat eben diese
Sprache. Dort herrscht dieser - wie soll ich sagen - reduzierte Intellekt."
Was Marxismus sei, welches der Stellenwert der Utopie,
darüber wurden sich die Jugendfreunde nicht mehr einig:
"Die Utopie markiert den Scheideweg, sie bleibt bei
Lukács ein metaphysisches, irrationales Öl, das Bloch dem
Marxismus beimischt, ein Schwärmen ohne konkret-gesellschaftliche
Griffigkeit. Während Bloch insistiert: ‘So ist denn Marxismus nicht
keine Utopie, sondern das Novum einer konkreten Utopie’, ist für
Lukács Blochs Philosophie ein vorwissenschaftlich-utopisches System
und kein marxistisches: ein Rückschritt des Sozialismus von der Wissenschaft
zur Utopie."
Geschichte und Klassenbewußtsein
- die Positionen
Bloch hielt Geschichte und Klassenbewußtsein
für ein wichtiges Buch. Noch 1930, als das erste Heft der leider
niemals erschienenen Zeitschrift "Krise und Kritik" konzipiert
wurde, regte Bloch an: "Über das Buch von Lucács [
!] : Geschichte und Klassenbewußtsein
ein Referat schreiben, s e h r w i c h t i g , aber nichts fürs
erste Heft." Für Bloch betrieb Lukács das Geschäft
von Geist der Utopie auf einer anderen Theorie-Ebene:
"In Lukács’ Buch gibt es Sätze, die von
mir stammen könnten, und umgekehrt gibt es in meinen zur gleichen
Zeit erschienenen Büchern Sätze, die den starken Einfluß
von Lukács verraten. Man findet zu dieser Zeit bei Lukács
auch die Kategorie des Utopischen, das ‘Dunkel des gelebten Augenblicks’,
die Kategorie des ‘Noch-Nicht-bewußten Wissens’ und sogar die Theorie
der objektiven Möglichkeit. Lukács hat als erster diese unsere
Ideen publik gemacht."
In der Tat werden Geschichte und Klassenbewußtsein,
Geist der Utopie zusammen mit Marxismus und Philosophie
von Karl Korsch als die entscheidenden Werke einer Erneuerung des Marxschen
Denkens genannt, die den Bruch mit der marxistischen Orthodoxie der Zweiten
und Dritten Internationale markieren. Lukács selbst trifft im rückblickend
andere Zuordnungen:
"Ich glaube, man muß heute nur den Geist der
Utopie oder den Thomas Münzer neben meine Geschichte und Klassenbewußtsein
stellen, um zu sehen, daß damals schon eine vollkommene Scheidung
der Wege da war, obwohl wir beide links und auf der Seite des Kommunismus
waren. Ich meine, diese Scheidung hat sich für mich vertieft, mit
jedem Schritt, mit dem ich ein echterer Marxist geworden bin."
Richtig ist wohl, daß Lukács immer weiter
von den Positionen abgerückt ist, die Bloch als gemeinsames Anliegen
besonders hervorhebt: von der Kategorie des Utopischen, vom Dunkel des
gelebten Augenblicks, vom Noch-Nicht-bewußten Wissen, von der objektiven
Möglichkeit. Alle vier Punkte gehören zum Wesenskern der Blochschen
Philosophie. All dies soll in Geschichte und Klassenbewußtsein
nicht nur beiläufig, sondern substantiell vorhanden sein?
Gemeinsame Themen fallen sofort ins Auge: Nicht nur Lukács
sieht in Rosa Luxemburg die einzige Marx-Schülerin, die dessen ökonomisches
Lebenswerk sachlich wie methodisch weitergeführt hat. Auch in der
Einschätzung des Theoretikers Lenin sind sich beide einig. Lukács
betont sein Interesse an der "Erkenntnis der Gegenwart", wobei
Marx endlich die richtige Methode, die dialektische Methode - im Anschluß
an Hegel - gefunden habe. Wie bekannt, beschränkt Lukács die
Dialektik als Methode der Erkenntnis auf Gesellschaft und Geschichte,
was er später, in seinem Vorwort von 1967, als Engführung kritisiert.
Dies ein spätes Eingeständnis, vor allem Bloch gegenüber,
der eine Dialektik der Natur nie bezweifelt hatte. Als weiterer entscheidender
Punkt des Einverständnisses dürfte die Lukácssche Stellungnahme
gegen das "geschlossene System" Hegels sein. Zwar unterstreicht
er die überragende Bedeutung des Hegelschen Denkens, insbesondere
von dessen Logik, für die Entwicklung der marxistischen Methode,
jedoch dürfe nicht an der Idee eines geschlossenen Systems festgehalten
werden: "... die - tote - Architektur des historisch vorliegenden
Systems (muß) zerschlagen werden, damit die noch höchst aktuellen
Tendenzen seines Denkens wieder wirksam und lebendig werden können".
Im Aufsatz "Die Verdinglichung und das Bewußtsein
des Proletariats" kommt Lukács im Zusammenhang mit Fragen
der Erkennbarkeit, der Ding-an-sich-Problematik auf Bloch zu sprechen.
Das bürgerliche Wissen wird aufgrund seiner kontemplativen Unmittelbarkeit,
die über die reine Faktizität nicht hinauskommt, kritisiert:
"Am krassesten tritt uns dieses ungeschichtliche,
antigeschichtliche Wesen des bürgerlichen Denkens entgegen, wenn
wir das Problem der Gegenwart als geschichtliches Problem betrachten.
... Die vollkommene Unfähigkeit aller bürgerlichen Denker und
Historiker, weltgeschichtliche Ereignisse und Gegenwart als Weltgeschichte
zu begreifen, muß jeder nüchtern urteilende Mensch seit Weltkrieg
und Weltrevolution in grauenhafter Erinnerung bewahren. Und dieses vollständige
Versagen ... hat auch seinen methodischen Grund darin, daß das kontemplativ-unmittelbare
Verhalten zwischen Subjekt und Objekt der Erkenntnis eben jenen, von Fichte
beschriebenen ‘finsteren und leeren’ irrationellen Zwischenraum schafft,
dessen Finsternis und Leere, die bei der Erkenntnis der Vergangenheit
ebenfalls vorhanden, jedoch durch die raum-zeitliche und die geschichtlich-vermittelte
Entfernung verborgen gewesen sind, hier unverhüllt zutage treten
müssen."
Dieses Denken ist in Reinform bei Bloch zu finden, festzumachen
am schädlichen Nähedunkel des Unmittelbaren. Und Lukács
zitiert an dieser Stelle Bloch mit seinem Beispiel des Landschaftserlebnisses:
Soll die Natur zur Landschaft werden, muß zwischen dem Betrachter
und der Landschaft eine Distanz hergestellt werden. Dies gilt sogar für
das Landschaftsgemälde, wo die Gestaltung des Vordergrunds vor die
größten Probleme stellt - ein Zeichen dafür, "daß
die Kunst nur die Gestaltung, nicht aber die reale Auflösung dieser
Problematik bedeuten kann."
Kunst könne durch vollendete Unmittelbarkeit den
sich auftuenden Abgrund verdecken, so Lukács. Aber das Begreifen
der Gegenwart gelingt nur durch Vermittlung, durch Überwindung des
"schädlichen Raums" (Bloch) der Unmittelbarkeit. Diese
Drehung und Hebung aus dem Unmittelbaren heraus, mit Prius der Theorie,
Primat der Praxis, hin zur Praxis als solidestem Beweis der Wahrheit und
schließlich der Nähe als der Lichtung des schädlichen
Raums und des Nähedunkels, ist die Quintessenz Blochscher Philosophie,
wie er sie in seinem systematischen Hauptwerk, dem späten Experimentum
Mundi, niedergelegt hat. Er zitiert Lukács darin auch an mehreren
Stellen: Einmal aus der Ontologie des gesellschaftlichen Seins,
wo Lukács die Kategorien nicht als reflexive Aussagen, sondern
als "bewegende Formen der Materie selbst, ‘Daseinsformen’, ‘Existenzbestimmungen’"
faßt. Der zweite Hinweis auf Lukács findet sich im Kapitel
"Übliche Gegenwart mit ebenso räumlichem Beisammen"
und trifft genau den erläuterten Zusammenhang: Die Gegenwart muß,
wie Lukács dies in Geschichte und Klassenbewußtsein
gezeigt habe, als Werden mit erkennbaren Tendenzen erfaßt werden,
"aus deren dialektischen Gegensatz er (der Mensch d.V.) die Zukunft
zu schaffen fähig ist". Als drittes Werk zitiert Bloch Die
Theorie des Romans. Hier geht es Bloch um das Wesentlich-Werden, um
das plötzliche Erscheinen des Sinns, indem die bisherige Zeit, der
bisherige Raum abrupt unterbrochen werden, allerdings im Rahmen des sich
dialektisch-fortsetzenden Geschichtsgangs.
Diese Stellen aus Experimentum Mundi belegen also,
daß Bloch den frühen Lukács zeitlebens als Mitstreiter
angesehen hat. Das ist nicht wenig, und nach dem Scheitern der Parteiorientierungen
vielleicht heute ein Anknüpfungspunkt für erneuertes politisches
Denken.
Aktualität und Utopie
Anhand des Bloch-Aufsatzes von 1923 "Aktualität
und Utopie. Zu Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein"
sollen die oben angerissenen Themen vertieft werden. Die im folgenden
behandelten Abschnitte des Aufsatzes sind betitelt "Das Ding-an-sich-Problem",
"Kunst und Moral", "Die Vernunft in der Geschichte",
"Theorie und Praxis", "Agnostizismus aus Verantwortung".
Blochs Besprechung endet mit "Kritik und Übereinstimmung".
Das Ding-an-sich-Problem
Bürgerliche Unmittelbarkeit versus marxistische Vermittlung
sind ein Begriffspaar, mit dem Bloch und Lukács operieren. Gegen
das kapitalistisch zerteilte leere Leben, gegen die aus der ökonomischen
Verfaßtheit resultierende Deformation der gesamten Gesellschaft
und ihrer Subjekte in zerstückelte Wirtschafts-, Rechts- und sontige
Subjekte, gegen den Tatsachenfetischismus und seine Tendenz zur Verewigung
der bürgerlichen Gesellschaft setzt der historische Materialismus
auf Prozessualiät, ihm sind die Zeiterscheinungen einer Epoche, und
zwar nicht nur die ökonomischen, rückführbar auf die "Totalität
ihres gesellschaftlichen Seins". Über das Verhältnis der
ökonomischen Sphäre zu den anderen Sphären und ihre Prägekraft
bezüglich der gesellschaftlichen Totalität stimmen Bloch und
Lukács überein, nicht ganz jedoch im Hinblick auf die Kräfte
der Veränderung. Völlige Übereinstimmung herrscht dagegen
in der Einschätzung der Wissenschaft in der bürgerlichen Gesellschaft:
"Folglich läßt sich von hier aus die Struktur
des Warenverhältnisses als das Urbild aller Gegenstandsformen in
der bürgerlichen Gesellschaft erweisen und aller ihnen entsprechenden,
zugeordneten Formen der Subjektivität. Der rein formale, auf den
Kalkül gestellte, spezialisierte und inhaltsfremde Charakter der
kapitalistischen Produktions- und Austauschweise kehrt also völlig
entsprechend auch in ihrer obersten Ideologie, im methodischen Charakter
der modernen Wissenschaft wieder."
Bloch kritisiert nicht nur die moderne Wissenschaft dahingehend,
daß sie, nach methodischer Säuberung der Wirklichkeit mittels
reiner Verstandeskategorien, ihre Exaktheit mit dem Verzicht auf die Erkenntnis
der "realen Materie" erkauft hat. Auch die neuere Philosophie
hat abstrakte Methodenfragen zu ihrem eigentlichen Anliegen gemacht, die
"am Inhalts-, am Ding-an-sich-Problem gleichfalls die Schranke ihres
rationalistisch-sphärenhaften Weltbegreifens" findet. Die "Universalkategorie
der modernen Welt" ist die "Übereinstimmung von quantitativem
Denken und Sein", alles Inhaltliche bleibt unbewältigt und
wird unterdrückt, bis es sich als "Krise" Raum schafft:
"Dieses neu bewußte Hereinragen der anderen,
der qualitativen Welt, der unerfaßten Wirklichkeit wird am ausgeprägtesten
in der vielfach schillernden Bedeutung des Dings an sich erkennbar,
wie es einmal den Inhalt der Formen bedeutet, unter denen wir die Welt
erkennen, und sodann das Problem der Gesamtwirklichkeit, deren Erfassen
erst die Teilsysteme zu einer Totalität rundet. Die Krise als wirtschaftlicher
Ausdruck des bloßen organisierten Zufalls kehrt dergestalt als Ding-an-sich-Problem
innerhalb des bürgerlichen Denkens wieder."
Kunst und Moral
Der funktionalisierten Wissenschaft werden zwei Bereiche
entgegengesetzt, die in der bürgerlichen Gesellschaft "das Wirkliche",
"das Herz der Dinge" (Bloch) dennoch treffen: die Kunst und
die Moral. Mit dem Schillerschen Menschenbild, dem "intuitiven Verstand"
des Kantschen Genies und der Goethe-Schellingschen Naturphilosophie entsteht
als Kontrapunkt zum formalen, inhaltsleeren Denken eine qualitative Betrachtungsweise.
Bloch konstatiert jedoch auch hier eine "nur verwandelte(n) Vorherrschaft
des kontemplativen Verhaltens", das die vorherrschende abstrakte
Rationalität nicht wirklich überwinden und daher die konkrete
Wirklichkeit nicht treffen kann. Dies zeigt sich an der Problematik des
Sollens bei Kant. Aber: Seine "Akzentverlegung aufs Praktische macht
immerhin den Gegensatz zwischen Form und Inhalt katastrophaler bewußt,
als es die Ästhetik vermochte, stellt ihn zugleich aufs dringendste
als das zu bewältigende Grundproblem." Kant formuliert so die
nunmehr entscheidende Aufgabe: "die gedankliche Rettung des Menschen
mit Ernst zu vollziehen".
Die Vernunft in der Geschichte
Nach Kunst und Moral tritt die Kategorie Geschichte in
den Mittelpunkt des Denkens, zuerst mit Macht bei Hegel. Die konkrete
Wirklichkeit rückt in den Blick, wird als Totalität gefaßt.
Mittels der dialektischen Methode, die als Selbstbewegung des konkreten
Begriffs und in ihm als Selbstumwälzung der Wirklichkeit erscheint,
ist die Trennung von Form und Inhalt, wie sie der Reflexionsphilosophie
eigen ist, überwunden, und die "inhaltliche Fülle des Ganzen"
kann in jedem Prozeßmoment erfaßt werden. Bei Hegel ist jedoch
der konkrete Mensch als Erzeuger seiner Geschichte noch nicht wirklich
getroffen, was dann zur Konstruktion des Hegelschen Weltgeistes führt.
Das Subjekt wird so wieder in die kontemplative Rolle gedrängt und
kann sich zum gegebenen geschichtlichen Sein wiederum nur unmittelbar,
unvermittelt verhalten. So bedingen Tatsachenfetischismus und Sollensmetaphysik
einander. Lukács hält dem entgegen, daß die wirkliche
Bewältigung der unmittelbaren Wirklichkeit nur vermittelt geschehen
kann, indem die empirische Wirklichkeit als Moment einer Prozeßrealität
gesehen wird. Aber:
"Das Hinausgehen über die Unmittelbarkeit der
Empirie und ihren ebenso bloß unmittelbaren rationalistischen Spiegelungen
darf sich ... zu keinem Versuch steigern, über die Immanenz des (gesellschaftlichen)
Seins hinauszugehen, wenn dieses falsche Transzendieren nicht die Unmittelbarkeit
der Empirie mit allen ihren unlösbaren Fragen in einer philosophisch
sublimierten Weise noch einmal fixieren und verewigen soll."
Theorie und Praxis
Was tun? Richtiges Denken wird nun - mit Marx und Lenin
- als Anleitung zum Handeln verstanden, als Einheit von Theorie und Praxis.
Die geforderte Vermittlung passiert in einem ersten Schritt, in der Organisation:
"Was der revolutionäre Instinkt ungeschieden besitzt, dies hat
sich der auf das proletarische Klassenbewußtsein organisierend bezogene
Geist zur Schärfe des Begriffs erhoben; er macht das Unbewußte
bewußt und wird derart die Führung des Unbewußten, der
Ausdruck des um sein Klassenbewußtsein ringenden Proletariats."
Lukács favorisiert die "freie, sprunghafte Bewußtseinstat"
des Proletariats. Bloch sieht darin die Frage nach dem "Jetzt"
berührt, Lukács entdecke derart "von dieser Seite her
das Problem der Nähe, der vermittelt direkten Selbstbegegnung des
sich in Existenz Verstehens." Wenn Denken als Prozeßmoment
selbst erscheint, ist es in der Lage, auf das Jetzt sich zu beziehen,
aktiv vermittelnd. Das auf diese Weise zu schaffende Neue ist die den
sich realisierenden Tendenzen innewohnende "Selbstbeziehung des gesellschaftlichen
Subjekts", die im Klassenbewußtsein des Proletariats geschieht.
Der zur Ware gewordene Arbeiter ist das Selbstbewußtsein der Ware.
Die Selbstenthüllung ist die der kapitalistischen Gesellschaft. Ist
die Ware das Ganze der bürgerlichen Gesellschaft, so kann nur der
Arbeiter sich darauf ganz beziehen.
Agnostizismus und Verantwortung
Wenn das "identische Subjekt-Objekt der Geschichte"
erkannt wird, und dessen Aufhebung die Verwirklichung der Philosophie
bedeutet und umgekehrt, dann erreicht das Denken sein höchstes Niveau:
Thema ist nicht mehr zuerst die Empirie, sondern die Tendenz. An der Veränderung
der Wirklichkeit mit dem Ziel der Aufhebung des Proletariats - so im Fall
Lukács - ist die Theorie führend beteiligt. Bloch gibt allerdings
zu bedenken, wie denn andere "Erscheinungskomplexe", wie Kunst
und Natur, zu behandeln seien. Hier läge zwar keineswegs eine identische
Subjekt-Objekt-Beziehung vor; aber reicht es hin, sich darum erst zu kümmern,
wenn der Stoff konkrete Manifestierungen im Sinn einer konkret-dialektischen
Vermittlung ermöglicht? Für Bloch ist Lukács’ Haltung
fragwürdig, er konstatiert einen "eigentümlichen Agnostizismus":
"Calvin schob die Hinterwelt mittels der Prädestinationslehre
aus dem Bewußtsein; Lukács als Theoretiker der Konstitutionspraxis
erreicht das Gleiche mittelst einer ganz einzigartigen Verbindung von
innerweltlicher Askese und Hegelscher purer Konkretionsdialektik."
Und seinem alten Freund zutiefst wohlwollend, die Differenzen
nicht achtend, fährt Bloch fort:
"Der tiefste Sinn dieses heroischen, dieses vorläufigen
und dialektischen Agnostizismus aber ist ohne Zweifel Scheu vor dem Verborgenen,
verantwortliche Haltung vor dem Geheimnis, strenges Bedürfnis nach
seiner Abgrenzung, nach seiner unabgelenkten Statuierung gegenüber
aller scheinbaren Konkretion oder voreilig abstrakten Konstruktion."
Lukács hat viel Anlaß gegeben, diese Einschätzung
Blochs als unzutreffend erscheinen zu lassen.
Kritik und Übereinstimmung
Bloch sieht einen Grund für den fragmentarischen
Charakter von Geschichte und Klassenbewußtsein in der Parteiorientierung
Lukács’, die er für problematisch hält. Aber er gesteht
zu, daß daraus eine ständige Bezogenheit des Denkens auf Mögliches
und Wirkliches resultiert. Mit einer Einschränkung:
"Aber mit der gewissen simplizistischen Neigung zur
Homogeneisierung, und zwar zu einer fast ausschließlich soziologischen
Homogeneisierung des Prozesses dürfte für diese Konkretheit
ein zu großer Preis bezahlt worden sein. ... Aber mit der Beschränkung
oder Homogeneisierung auf die rein soziale Materie hin (die bei
Lukács regiert, trotz alles Willens zur Totalität) wird man
weder Leben noch Natur noch eben die fast allemal exzentrischen Inhalte
des dianoetisch bezogenen Verständigungsprozesses adäquat
erfassen."
Seine Vermissungen konkretisierend, beharrt Bloch auf
der Bedeutung des Kulturellen für eine wahrhaft gelingende Praxis.
Auch die Naturfrage sei bei Lukács unerledigt, der "gesamte
Komplex der physischen Natur (ist) historisch-prozessual überhaupt
noch unbewältigt, ihr Subjekt, das hier die Aufhebung der Natur als
ihre Wirklichkeit schaffen könnte, ist noch nicht gekommen, hinter
dem konkreszierten Zweilicht oder Irrlicht ihrer noch nicht entdeckt."
Ebenfalls seien die menschlichen Bedürnisse, die sich in Religion
manifestieren, sozial noch nicht verwirklichbar. Deswegen werden diese
Prozeßgehalte weiterhin Sphären der Totalität beanspruchen.
Mehr als diese Einwände zählen für Bloch
die übereinstimmenden Aspekte: "Aus verschiedenem Auge gesendet,
sieht sich oft ein fast ununterscheidbar gleicher Blick aus der Tiefe
entgegen." Eine Liebeserklärung Blochs an Lukács, mit
der dieser allerdings nichts mehr anfangen konnte. Bloch hebt die außerordentlich
große Bedeutung hervor, die dem von Lukács in Geschichte
und Klassenbewußtsein pointierten neuen Denken des Werdens als
dauernder menschlicher Produktion und Reproduktion der Geschichte zukommt.
Lukács’ Agnostizismus in anderen Dingen müsse verstanden werden
als Respekt vor dem "real unenthüllten Wirgeheimnis, welches
das Weltgeheimnis ist". Insofern sind Aktualität und Utopie
keine Gegensätze. Denn was ist das Thema der Utopie? Im Jetzt das
herzustellen, wovon die Welt nach Marx längst einen Traum besitzt:
Nähe.
Aktualität und Utopie heute
Die Frage drängt sich natürlich auf, was heute
das "identische Subjekt-Objekt" sei, was der Stellenwert der
Natur, der Kunst? Bei längerem Betrachten wirken die Fragen etwas
abgestanden, merkwürdig unzeitgemäß. In den bald acht
Jahrzehnten, die seit Erscheinen von Geschichte und Klassenbewußtsein
vergangen sind, hat der Kapitalismus - neben anderen Verhängnissen
- folgendes produziert: Veränderungswille und kritisches Bewußtsein
sind, jedenfalls in seinen Zentren, obsolet geworden. Der Traum von den
besseren Verhältnissen scheint abhanden gekommen zu sein. Welche
Anstrengungen wären nötig, um wieder Boden zu gewinnen? Schlagen
die Ergebnisse eines Prozeßdenkens, das von der Beständigkeit
des Seins Abschied genommen hat, in der Weise zurück, daß die
folgende Frage umstandslos mit "ja" beantwortet werdem muß?
"Der aufgehobene Seinsbegriff traditioneller Metaphysik
wird hier durch den Begriff der Geschichte als Verwirklichungsprozeß
immanenter und selbständiger Entwicklungstendenzen ersetzt. Ist dieser
in der ojektiven Notwendigkeit begründete Prozeß auch selbst
nur ein Ausdruck der Selbstbewegung der verdinglichten Struktur der bürgerlichen
Welt?"
Auf der anderen Seite hat sich wohl so viel Wesentliches
doch nicht verändert. Manche Sätze aus Geschichte und Klassenbewußtsein
wirken sehr vertraut, man meint, mit diesen Erscheinungen täglich
konfrontiert zu werden:
"Der theoretische Dogmatismus ist ja nur ein Spezialfall
jener Erstarrungserscheinungen, denen jeder Mensch und jede Organisation
in der kapitalistischen Umwelt ununterbrochen ausgesetzt ist. Die kapitalistische
Verdinglichung des Bewußtseins bringt zugleich eine Überindividualisierung
und eine mechanische Versachlichung der Menschen zustande. Die nicht auf
menschlicher Eigenart beruhende Arbeitsteilung läßt die Menschen
einerseits in ihrer Tätigkeit schematisch erstarren, macht Automaten
ihrer Beschäftigung, bloße Routiniers aus ihnen. Andererseits
aber übersteigert sie zugleich ihr individuelles Bewußtsein,
das infolge der Unmöglichkeit in der Tätigkeit selbst die Befriedigung
und das Sichausleben der Persönlichkeit zu finden, leer und abstrakt
geworden ist, zu einem brutalen habgierigen oder ehrsüchtigen Egoismus."
Diese Einsichten aus der eigens für Geschichte
und Klassenbewußtsein geschriebenen Studie "Methodisches
zur Organisationsfrage", die Lukács als "kapitalistische
Erbschaft" bei Fragen der Parteiorganisation zu berücksichtigen
empfahl, gelten heute mehr denn je. Leider sind sie weder "Erbschaft",
noch irgendwie organisatorisch in den Griff zu kriegen. Sie sind die befürchtete
Totalität eines globalen Kapitalismus geworden.
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Beitrag |
von
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Doris |
Zeilinger
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