Theodor W. Adorno an Ernst Bloch


an Prof. Ernst Bloch, Tübingen, Im Schwanzer 35        

26. Juli 1962
   
Lieber Ernst,
   
dies nur, um Dir für Deine Karte zu danken, sie war mir eine große Freude. Hoffentlich wird Dich das Büchlein nun nicht zu sehr enttäuschen. Mit dem Geist der Utopie läßt es sich an Größe des Zugs nicht vergleichen, und während ich für das Schmeichelhafte des Vergleichs nicht unempfänglich bin, meine ich doch, Dir schuldig zu sein, das crument auszusprechen. Sehr vieles von dem, was ich in meiner Jugend geschrieben habe, hat den Charakter einer traumhaften Antizipation, und erst von einem gewissen Schockmoment an, der mit dem Ausbruch des Hitlerschen Reiches zusammenfallen dürfte, glaube ich eigentlich recht getan zu haben, was ich tat. Ich bin eben, wie meist sogenannte Wunderkinder, ein sehr spät reifender Mensch, und habe heute noch das Gefühl, daß das, wofür ich eigentlich da bin, alles erst noch vor mir liegt.
   
Vielleicht hat mich zu diesen Erwägungen Kracauers Besuch angeregt; Du hast ihn ja nun in München auch gesehen. Ich meine, je größer die sachlichen Ansprüche sind, die man an sich stellt, und je größer man damit in einem gewissen Sinn von sich selber denkt, um so weniger darf man das auf die empirische Person und selbst auf das, was ihre Leistung ist, übertragen. Darin reagieren wir wohl sehr ähnlich. Mit Friedel kann ich leider über die ernsten Dinge kaum mehr reden, nicht nur weil er einen Panzer hat, als ob Narzissus Jung-Siegfried wäre, sondern auch weil er, im Gedanken an das Lindenblatt' mein eigenes Zeug a priori so sehr lobt, daß ich mich schon gar nicht mehr getrauen kann, etwas über das seine zu sagen. Aber dies natürlich strikt nur unter uns beiden.
   
Unterdessen ist nun auch die "Einleitung in die Musiksoziologie" fertig geworden und geht dieser Tage in Satz, ein exoterisches Büchlein, eine Lehrschrift, mehr gesprochen als geschrieben, aber darum vielleicht wenigstens mit der Tugend der Abwechslung. Nun, Du wirst ja sehen. Jedenfalls kann ich mich jetzt wieder dem widmen, wofür mir der hausbackene Goethesche|406| Ausdruck "Hauptgeschäft" immer noch der menschenwürdigste dünkt. Halt mir den Daumen.
   
Wirst Du zu dem sogenannten Philosophenkongreß nach Münster kommen? Ich halte dort ein ((wissenschaftliches)) sogenanntes Hauptreferat, Zur Dialektik des Fortschritts, und wenn ich einigermaßen ausgeruht zurückkomme, so sollte mir eine ganz ordentliche Ketzerpredigt - die eines Ketzers - gelingen. Schön wäre es, wenn Du kämst, obwohl Dir bei dem Wort Philosophenkongreß ähnlich zumute sein wird wie mir.
   
Wir fahren am Samstag, nach der Sitte alter Gebirgskühe, die ihren Wechsel haben, ins Engadin, nach Sils Maria, ins Waldhaus. Das Gretelschen, dessen Geburtstag wir in Wien feierten, hatte bei einer Autotour in die Wachau einen sehr lästigen Unfall mit einer ((sehr = gestrichen)) schweren Verstauchung beider Füße und allerhand unangenehmen Nachwirkungen; erst sehr allmählich geht es ihr besser. Sie wird auch oben nicht gerade viel gehen können. Sonst war Wien bunt und reich, und teilweise recht ungewöhnlich; aber davon muß ich Dir einmal erzählen. Kennst Du übrigens dort den Leiter des österreichischen Colleges, Alexander von Auer? Das ist ein netter Mann; sollte er Dich einladen, in Alpbach einmal mitzutun, so würde ich dem Folge leisten, es herrscht da oben eine ganz spaßige Atmosphäre, und von österreich geht halt immer noch der Trost des Verfalls aus.
   
Laß doch wieder von Dir hören.

Dir und Carola alles Liebe, auch von Gretel,

Dein alter...
   
Hast Du zufällig einen überzähligen Durchschlag, ein Belegexemplar, eine Fahne der Arbeit über das Hohe Paar? Dann sei doch bitte so lieb; es mir zu schenken, und schick es ins Waldhaus. Du würdest mir einen wirklich sehr großen Gefallen damit tun; tausend Dank. Mein Sächelchen über die Dialektik des Engagements in der Neuen Rundschau hast Du wohl gesehen; sonst bekommst Du es selbstverständlich.
   
Herzlichst!
   
(Quelle: Detlev Claussen, Theodor W.Adorno. Ein letztes Genie. S. 405)

 

Brief
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Theodor W.
 Adorno
 

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