Die Zukunft des irdischen Sozialprozesses. Kritische Fragen zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins

Erinnerung an ein Gespräch mit Adolph Lowe
 

I. Können wir die Hoffnung teilen, daß Blochs Vision von Utopie Wirklichkeit werde?

  1. Der Inhalt dieser Utopie wäre als ein kontinuierlicher, wenngleich gefährdeter Prozeß zu verstehen, dessen Ziel am Schluß des "Prinzip Hoffnung" bezeichnet ist: "Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, dei Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat."
  2. Der Weg, der zu diesem Ziele führt, ist bestimmt durch die Kombination einer vorgegebenen Latenz des Prozesses mit einem subjektiven Handeln, das das Latente in historische Realität verwandelt.
  3. Freilich besteht keine der Naturwelt analoge Determiniertheit zu diesem Prozeß, weshalb die Verwirklichung des Zieles eine Hoffnung bleibt. Es besteht eine mögliche Alternative zur echten Utopie: Barbarei (leider hat Bloch - wie auch Marx - diese Alternative nie konkret bedacht).
  4. Wie lauten die Gegenargumente dazu, beziehungsweise entzieht sich die Hoffnungskonstruktion Argumenten.

II. Die Vorbehalte

  1. Wenn Blochs Vision als moralische Forderung zu verstehen wäre: als das, was erzielt werden soll, so gäbe es keine Vorbehalte - ganz im Sinne der Postulate, die er im Kapitel "Freiheit, ihre Schichtung und ihr Verhältnis zur Wahrheit", genauer: im Absatz "Über Wollens-, Wählens-, Entscheidungs-, Handlungsfreiheit" sowie im Kapitel "Aktualität und Utopie. Zu Lukács' Geschichte und Klassenbewußtsein'" in seinen "Philosophischen Aufsätzen" formulierte, wonach die einzelne Willensfreiheit zu eigentlicher, nämlich öffentlicher und somit politischer Handlungsfreiheit übergehen soll. Die folgenden Zitate bezeichnen den ersten Schritt der zielgemäß Handelnden im geschichtlichen Sozialprozeß: als Kategorien des Sollens und nicht des Seins (zwei Kategorien, entlang derer sich prinzipiell und überhaupt die philosophische Diskussion führen ließe):
    "Freilich sind die Zielvorstellungen selber in den Akten der politischen Freiheit nicht nur verschieden (das sind sie in der bloßen Willensfreiheit noch mehr), sondern im Nacheinander der Klassenemanzipationen oft unvereinbar. Es braucht nur an den erwähnten Unterschied der 'Freiheit des Erwerbs', in der bürgerlichen Revolution, und an die 'Freiheit vom Erwerb', in der sozialistischen, erinnert zu werden."
    (S. 582)
    "Nur wer handelt, begreift hier. Und genau nur soweit als er halndeln will. Das Denken läuft gewiß vorauf, läßt einen möglichen Verlauf abstrakt überschlagen. Aber doch mit einiger Sicherheit nicht über den nächsten, praktisch zu verwirklichenden Schritt hinaus. Das richtige Denken ist immer nur ein solches, das unter dem Gesichtpunkt steht, was hier und jetzt zu tun sein."
    (S. 601)
  2. Vorbehalte könnten sich richten gegen Blochs Annahme einer Autonomie des historischen Prozesses, die angeblich aus einem "produktiven Nichts" erwächst: der ontologische Geburtsbrief des Nichts führt zum Nicht-Haben, mithin zur Sehnsucht nach Sein. Das Nichts wird zum Instrument des Umschlags, zur gewaltigen Antithese im Sein. Wenngleich Bloch neben der "Produktivität des Nichts" vom toten, "negativen Nichts" spricht (Hegels "übertünchtes Grab"), vom "zertretnen Saatkorn", das nichts hervorbringt, so wird dieses tote Nichts in seinem utopisch-offenen System weit unterschätzt. Was um so mehr verwundern mag, als er das negative Nichts in Gestalt des alles zertretenden Hitlerismus erfuhr - dessen Datum, der 30. Januar 1933, zum Datum des toten Nichts wurde. Danach erlebte er zudem, auf anderem Gebiet, real-existierendes negatives Nichts: Jahre, in denen schließlich die Zeit stillstand und reale Lebenszeit als eigene Sinnzeit den Menschen abhanden kam. "Gestohlene Zeit", wie in Michael Endes "Momo", wird zur Metapher für das tote, unproduktive Nichts, für den sinnlosen Umweg zum Kapitalismus auf sowjetisierten ostdeutschen Boden. Dieser Boden war Teil eines weit umfänglicheren Terrains: was war der weltgeschichtliche Zweck der Oktoberrevolution, welchen Sinn hatte der real existierende Sozialismus, war er Teil eines gültig probierenden Wegs im "Experimentum Mundi" oder nicht vielmehr ein leerer, bedeutungsloser Irrweg? Als bloch nach dem Sinn der Sowjetunion gefragt wurde, antwortete er: Sie hat Hitler besiegt. Das freilich ist viel, im Kontext des Weltexperiments indessen sehr wenig, eigentlich: nichts.
  3. Was bedeutet im Vergleich zur echten Utopie die in strategischen Ansätzen und realen Zügen uns umgebende Wirklichkeit, die alle Merkmale der Gegenutopie trägt? Wie stellt und verhält sich die "Konkrete Utopie" zu den "radiernadel- und kompaßhaften" (um einen für die eigene Utopie gemünzten Terminus Blochs zu gebrauchen) Antizipationen in Huxleys "Brave New World", Orwells "Nineteen Eighty-Four" oder Samjatins "Wir"?
III. Die Rolle des subjektiven Faktors

Bloch schreibt ihm folgende Aufgaben zu:
a) Erkennen des Gehalts des utopischen Ideals,
b) Erkennen des adäquaten Handelns zur Verwirklichung des Ideals,
c) Handeln im Sinne dieser Erkenntnis. Diese Aufgaben des subjektiven Faktors sind ein Sollen, eine moralische Forderung.

  1. Indessen ergibt sich bei Bloch eine grundverschiedene Auffassung des Sollens, das sich bei ihm in ein ontisch fundiertes "Gehofftes" und "Gesolltes" verwandelt.
  2. Natürlich muß die Verwirklichung des Gehofften oder des Gesollten möglich sein, darf - um eine negative Bedingung zu nennen - den Naturgesetzen nicht widersprechen. Aber daraus folgt logisch kein eindeutig Positives, wie Bloch es darstellt, nämlich eine ab origine vorgegebene Latenz des Erhofften, eine autonome Schöpfung aus dem Nichts, die zusammen mit einem vorgeblich aus dem "Nicht-Haben" stammenden Urdrang das subjektive Verhalten auf der Ebene des Seins den historischen Prozeß auf die echte Utopie hinwendet.
  3. Worum es letztlich geht wird deutlich in der Frage: wer sind die Handelnden, in denen der rechte Drang ab origine angelegt ist? Bloch spricht vom "Wir". Wer besitzt indes jene Latenz als Seinsgegebenheit, wer ist der Agent der Geschichte, wenn das Kollektivsubjekt Proletariat ausgespielt hat? Was kann schließlich ein utopischer Generalstab ohne Armee ausrichten?
IV. Die Gegensätze

  1. Man kann mit Bloch darüber einig sein, daß alle im Prozeß der Weltgeschichte und darum auch im historischen Prozeß wirksamen Kräfte "innerweltlich", also nicht jenseitig sind.
  2. In dieser innerweltlichen Sphäre sind unpersönliche kosmische Kräfte zu erkennen, die den "transmundanen" Weltprozeß "autonom" beherrschen - etwa den "gestirnten Himmel". Aber ihr Einfluß erstreckt sich auch auf den "mundanen" Entwicklungsprozeß und innerhalb dessen auf die menschliche Geschichte, ohne jedoch den Geschichtsprozeß voll zu determinieren. Der Verlauf des Geschichtsprozesses kann von einer näher zu bestimmenden Stufe an und innerhalb sich stetig erweiternder Grenzen durch menschliches Handeln modifiziert werden.
  3. Auf den ersten Blick scheint es, als könne man im Grundsätzlichen einer Meinung sein. Die Differenz indes offenbart sich darin, daß Bloch dem mundanen Entwicklungsprozeß und damit der menschlichen Geschichte eine vorgegebene Latenz in Richtung auf das "Heil der Menschheit" zuspricht. Im Gegensatz dazu erscheinen doch diese autonomen Kräfte als total indifferent gegenüber dem Schicksal der Menschen zu sein. Wie es den Menschen geht, ist den Wäldern und Flüssen, den Tieren und Pflanzen, den Bergen und den Sümpfen, der Sonne und dem Mond höchst gleichgültig.
  4. Nun ist diese Latenz des Geschichts- und Weltprozesses, isoliert betrachtet, für Bloch keine Garantie für die Verwirklichung des utopischen Ziels. Dafür bedarf sie der Mithilfe des handelnden Menschen, mit des "subjektiven Faktors".
  5. Dem könnte zugestimmt werden, wenn Bloch die zielgerechte Mitwirkung des subjektiven Faktors als moralische forderung postulierte, die der handelnde Mensch annehmen oder ablehnen kann, jenseits eines a priori verbürgten Seins. Es spricht aber von einem "Drang" des subjektiven Faktors, der seinerseits einem urzeitlichen "Nichthaben" entspringt, er spricht von einem Drang, der das menschliche Handeln in der dimension des bloßen "Seins"unabhängig von moralischen Postulaten - in die richtige Bahn lenkt. Es geht in seiner Philosophie also um die Idee eines zieladäquaten Urdränges, um die Idee eines aus der Urzeit des mundanen Seins stammenden Drangs, der den mundanen Prozeß in eine die Menschheit fördernde Richtung lenkt.
  6. Der Gegenüberstellung des "produktiven Nichts" mit dem "toten Nichts" entspricht die Alternative der geschichtlichen Entwicklung: Heimat oder Barbarei. Die mögliche Gabelung des menschlichen Handelns in Heimat oder Barbarei ist in der Kategorie "docta spes" - der gescheiterten Hoffnung und geprüften Hoffnung, der durch Schaden klug gewordenen Hoffnung - eingeschrieben. Indessen wird - wie beim "toten Nichts" - die Alternative Barbarei unterschätzt, da sie die Idee des zieladäquaten Urdranges nach unentfremdeter Heimat negiert.
  7. Zur Idee der Natur und zur Rolle des menschlichen Handelns im Ablauf des geschichtlichen Prozesses:
    a) Im vormenschlichen Abschnitt des mundanen Entwicklungsprozesses ist keine eindeutige Richtung zu erkennen - und gewiß keine, die auf das "Heil" einer noch nicht vorhandenen Menschheit zielte.
    b) Aber mit dem Entstehen und Bestehen des Menschen ist etwas völlig Neues in die mundane Welt eingetreten - ein Wesen mit einem allmählich erwachenden Bewußtsein seiner Umwelt und schließlich seiner selbst. Er lernt, sehr langsam, die Umwelt seinem Grundbedürfnis, dem Überleben, nutzbar zu machen. Aus der Erfahrung dessen, was zur Befriedigung dieses Grundbedürfnisses nützlich und was schädlich ist, eröffnet sich ihm die Dimension des "Wertes". Und aus der Fähigkeit, wählen zu können, entsteht ein Bewußtsein dessen, was wir auf einer höheren Stufe "Freiheit" nennen - und mit diesem Bewußtsein die ermöglichte Gefahr, das Schädliche zu tun.
    c) Nur Unterwerfung unter eine "Norm" kann verhüten, daß das "freie Handeln" der Glieder der Gesellschaft in Anarchie mündet und damit, gesellschaftlich gesehen, in Barbarei endet statt der echten Utopie zuzustreben. Was aber wäre die echte, gültige Utopie? Läßt sie sich entelechetisch aus dem Sein ableiten? Wäre sie nicht vielmehr eine Ausrichtung auf einen ethisch, nicht seinshaft, begründeten Endzustand?
    Auf die Frage, wann und aus welchen Wurzeln diese Norm ins Bewußtsein tritt, gibt es wohl keine Antwort. Diese Norm aber ist kein Analogon zu den Naturgesetzen. Sie kann verworfen werden zugunsten einer unbegrenzten Freiheit (eine Wahl, die - wie uns Erfahrung lehrt - eine alle Freiheit vernichtende Autokratie heraufbeschwören kann), sie kann anerkannt werden zur Konstitution einer zivilen Gesellschaft. Die "Normen" der Natur hingegen liegen jenseits dieser Wahlfreiheit, sind seinshaft verankert. Es gibt keinen im Sein gelagerten Grund anzunehmen, daß diese Normen auf eine freundliche Begegnung mit dem Menschen gerichtet wären. Blochs ontische fundierung der Utopie in einer entelechetisch bestimmten, aufsteigenden Materie, die dem Menschen- und Weltheil entgegenkommt, seine Konstitution einer dem handelnden Subjekt prozessual verbundenen objektiven Naturutopie, ist ihm der wichtigste Bauteil einer "Ontologie des Noch-Nicht-Seins" und ist zugleich: ihr problemreichster Teil, im besten Sinne des Wortes.
(1989/1995)

 
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Jan Robert
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