Zur Aktualität ausgewählter Aspekte des Werks Herbert MarcusesAufsatz von Christian Fuchs, Technische Universität Wien
Einleitung: Theorie und Praxis
Die komplexe Einheit von Theorie und Praxis wird von Linken heute häufig auf eines der beiden Elemente reduziert. Entweder wird davon ausgegangen, dass Theorie nicht notwendig ist, da emanzipatorische Politik ausschließlich praktisch möglich ist, oder die Möglichkeit, Theorie in Praxis zu übersetzen, wird als aussichtslos erachtet. Beides erscheint uns jedoch verkürzt. Die Voraussetzung jeder politischen Praxis ist eine Theorie, die diese entwirft und ihre Möglichkeiten verdeutlicht. Theorie bleibt andererseits wirkungslos, wenn sie nicht auf konkrete gesellschaftliche Kämpfe bezogen wird und darin eingeht.. Herbert Marcuse hatte das
Verhältnis von Theorie und Praxis als dialektisch erkannt. Ein kritisches
praktisches Handeln muss wissen, worauf es sich bezieht, was es verändern
will und wogegen bzw. wohin eine Aufhebungsbewegung stattfinden soll.
Und eine Theorie, die nicht die geschichtlichen Gegebenheiten darlegt,
sich also nicht permanent weiterentwickelt, ist für eine Praxis untauglich.
„Eine Theorie, welche die Praxis des Kapitalismus nicht eingeholt hat,
kann schwerlich eine Praxis anleiten, die darauf abzielt, den Kapitalismus
aufzuheben“ (Marcuse 1972, S. 40). Eine kritische Theorie der Gesellschaft
kann die Rolle spielen, bestehende Verhältnisse und die Möglichkeit deren
Veränderung zu verdeutlichen. Was sie leisten kann, ist das Bewusstmachen
der Möglichkeiten, zu denen die geschichtliche Situation selbst herangereift
ist. Sie umfasst immer auch die Anregung zur Phantasie, denn als Einbildungskraft
bezeichnet diese „einen hohen Grad der Unabhängigkeit vom Gegebenen, der
Freiheit inmitten einer Welt von Unfreiheit. Im Hinausgehen über das Vorhandenen
kann sie die Zukunft vorwegnehmen“ (Marcuse 1937a, S. 122). Kritische
Theorie kann verdeutlichen, zu welchen Möglichkeiten die historische Situation
herangereift ist, und sie kann einen Begriff davon liefern, wie sich die
praktisch in Frage gestellten Strukturen und Verhältnisse und damit auch
die Bedingungen für gesellschaftlichen Wandel und damit für politische
Praxis verändern. Kritische Theorie „hat eine antizipierende, kritische
Qualität. Auf Grund der Analyse der gegebenen Gesellschaft projiziert,
entwirft die Theorie mögliche Praxis. [...] Sie bestimmt das Allgemeine
im Besonderen; sie bringt die unmittelbaren, konkreten Erscheinungsformen
der gegebenen Gesellschaft auf ihren Begriff, und sie begreift Tendenzen,
die in der Praxis abgebogen und blockiert werden können“ (Marcuse 1975,
Theorie und Praxis, S. 143). Theorie ist notwendig, um
„die Welt zu begreifen“, in der wir leben – „sie im Hinblick auf das zu
verstehen, was sie dem Menschen angetan hat und was sie dem Menschen antun
kann“ (Marcuse 1967, S. 198). Kritische Theorie unterscheidet sich auch
sprachlich von der Wirklichkeit, denn diese ist wesentlich geprägt durch
eine herrschende, eindimensionale Sprache, die komplexe Zusammenhänge
nicht adäquat darstellen kann (vgl. ebd., S. 207f). Indem die Rationalität
des Irrationalen und die Irrationalität des Rationalen in der bestehenden
Gesellschaft aufgedeckt wird, wird kritische Theorie praktisch: „Das kritische
Denken ist bestrebt, den irrationalen Charakter der bestehenden Rationalität
(der immer offenkundiger wird) und die Tendenzen zu bestimmen, die diese
Rationalität dazu veranlassen, ihre eigene Transformation hervorzubringen“
(ebd., S. 238). Gerade auch in der heutigen Phase des Kapitalismus, in der die gesellschaftlichen Verhältnisse immer prekärer werden, die materiellen Voraussetzungen der Befreiung aber naheliegend wären, gleichzeitig den Menschen radikaler sozialer Wandel aber immer gleichgültiger und die bestehende Totalität immer selbstverständlicher zu werden scheint, ist eine Vermittlung von Theorie und Praxis von großer Bedeutung. Die Kritische Theorie Herbert Marcuses hat durch die Krise der Gesellschaft, die auch Krise der Linken und des Marxismus ist, nicht an Aktualität verloren. Ganz im Gegenteil, durch den Zusammenbruch des Sowjetsystems hat sich nicht gezeigt, dass der Kapitalismus die bessere Alternative ist, sondern dass sowohl Staatssozialismus, als auch die Formen des westlichen Kapitalismus eine sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung nicht garantieren können. Von letztem zeugt die Ausdehnung der globalen Probleme und die anhaltende Krise des Weltsystems. Die Überlegungen von Marcuse (und auch jene von Marx) sind in dieser Situation der gesamtgesellschaftlichen Krise wesentlich, wenn eine Transformation hin zu einer Gesellschaft stattfinden soll, die den Menschen ein humanes Auskommen bietet. Marcuses Werk ist dabei in vielerlei Hinsicht relevant. Ich möchte an dieser Stelle vier Aspekte herausgreifen, die mir persönlich besonders wichtig sind und deren Aktualität diskutieren. Es gäbe weitere, die hier allerdings nicht berücksichtigt werden können. Aufgreifen möchte ich Aspekte über
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ERNST BLOCH |
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