Aus VorSchein Nr. 15:
Peter Zudeick

"Corruptio Optimi Pessima". Ernst Blochs Sozialismusverständnis

VorSchein-
Hauptseite

III.

Am Anfang des Blochschen Werkes steht der schwärmerische Ruf nach einem neuen Leben, einem neuen Menschen. "Es ist genug. Nun haben wir zu beginnen. In unsere Hände ist das Leben gegeben. Für sich selber ist es längst schon leer geworden. Es taumelt sinnlos hin und her, aber wir stehen fest, und so wollen wir ihm seine Faust und seine Ziele werden." So fängt das erste große Werk "Geist der Utopie" an, das als ekstatisches, vom Expressionismus geprägtes Frühwerk katalogisiert und gleichsam abgefertigt worden ist. Wobei häufig vergessen wird, daß Bloch schon hier der ekstatische Ruf durchaus nicht genügt; so subjektivistisch, so schwärmerisch "Geist der Utopie" auch daherkommt, schon hier versucht Bloch, objektiven Boden unter die Füße zu bekommen, spottet über die "Posse" einer Weltverbesserung nur aus den Tiefen des Gemüts, fordert die scharfe Analyse der Realität als Komplement zum reinen Wünschen, einen Begriff von dem, was wir wollen. Dieser Begriff fehlt, und dafür hat Bloch eine an dieser Stelle recht verblüffende Erklärung: "Das macht, wir haben keinen sozialistischen Gedanken."

Sozialismus ist hier freilich kaum mehr als eine Vermengung eines romantisierten Brüderlichkeits-Ideals der Aufklärung mit christlichen Ökumene-Gedanken. "Wir bringen der Gemeinde nicht mit, weswegen sie sein soll, und deshalb können wir sie nicht bilden. Wir haben Sehnsucht und kurzes Wissen, aber wenig Tat und was deren Fehlen mit erklärt, keine Weite, keine Aussicht, keine Enden, keine innere Schwelle, geahnt überschritten, keinen utopisch prinzipiellen Begriff. Diesen zu finden, das Rechte zu finden, um dessentwillen es sich ziemt, zu leben, organisiert zu sein, Zeit zu haben, dazu gehen wir, hauen wir die phantastisch konstitutiven Wege, rufen was nicht ist, bauen ins Blaue hinein, bauen uns ins Blaue hinein und suchen dort das Wahre, Wirkliche, wo das bloß Tatsächliche verschwindet - incipit vita nova." Die Stelle aber, an der all das "Ins Blaue hinein" konkret wird, der Ankerplatz für die Suche nach der sozialistischen Brüdergemeinde ist für Bloch die Oktoberrevolution.

Ärgerlich ist für ihn zwar, daß im Namen von Karl Marx ausgerechnet in Rußland eine siegreiche Revolution stattfindet, aber er setzt einige Hoffnung darein, daß nach Ende des Krieges die "demokratische Sozialisierung in Deutschland herrlicher noch als in Rußland" siegen werde. Und zwar nicht als Resultat einer proletarischen Revolution, sondern eines Erwachens des jüdischen Messianismus. "In unserem tiefsten noch namenlosen Inneren schläft der letzte, unbekannte Christus, der Kälte-, Leere-, Welt- und Gottbesieger, Dionysos, der ungeheure Theurg, von Moses geahnt, von dem milden Jesus nur umgeben, aber nicht verkörpert."

Der deutsche "Philosoph der Oktoberrevolution", wie Oskar Negt Ernst Bloch charakterisiert hat, war in dieser frühen Phase eher ein "Theologe der Revolution". Rußland, Deutschland und das Judentum werden hier zum universalen Hoffnungsträger der Menschheit zusammengemischt. "Es gibt keinen Zweifel daran, daß durch die tausendfachen Energien, durch die äonenweite Optik einer neuen Proklamation das Judentum mit dem Deutschtum nochmals ein Letztes, Gotisches, Barockes zu bedeuten hat, um solchergestalt mit Rußland vereint, diesem dritten Rezipienten des Wartens, des Gottgebärertums und Messianismus - die absolute Zeit zu bereiten." Das hat Bloch in "Geist der Utopie" unter Sozialismus verstanden, und man wird auch bei verwegenster Auslegung nicht behaupten können, daß derlei in der russischen Oktoberrevolution gemeint war.

"Natürlich ein befreiter Jubel ohnegleichen über die russische Revolution", so hat Bloch 1974 seine damalige Reaktion beschrieben, das mag für diese frühe Phase auch stimmen. Er hat das Manuskript von "Geist der Utopie" 1917 abgeschlossen, hat die Oktoberrevolution gerade noch am Rande mitbekommen, die entsprechenden Passagen vermutlich erst beim Korrekturlesen eingefügt. Noch im selben Jahr ging er in die Schweiz ins Exil, seine publizistische Tätigkeit dort zeugt von zunehmender Kritik an den Entwicklungen in Rußland. "Lenin, der 'rote Zar'" ist der Titel eines Aufsatzes, in dem Bloch betont, mit den Anfängen der Revolution sympathisiert zu haben. Nun aber führe Lenins "autokratisches Regime" das Land wieder in seine alten Formen zurück. Bloch kritisiert die "pure Machtgebärde" Lenins und argumentiert gegen dessen Aussage, die russischen Bauern müßten zum Kommunismus gleichsam wie zu ihrem Glück gezwungen werden: "Jedes Volk hat nur denjenigen Sozialismus zu erwarten, den es nach Maßgabe seiner bürgerlichen Freiheit, seines Liberalismus verdient." Im August 1918 sieht Bloch "Die letzten Tage der Bolschewiki" kommen, im November schreibt er: "Niemals hätte man es als Sozialist für möglich gehalten, daß aus dem Rußland der sozialistischen Revolution nichts als Gestank, Verrottung, neuer Dschingis-Khan mit den Gebärden des Völkerbefreiers, mit den mißbrauchten Insignien des Sozialismus kommt."

In der Broschüre "Vademecum für heutige Demokraten" faßt Bloch 1919 sein Urteil über die Oktoberrevolution zusammen: Er lobt den wichtigen Anstoß, kritisiert aber die bolschewistische Politik, die eine Weiterführung der sozialen Revolution verhindert habe. Und schon damals erweitert er seine Kritik an Lenin und den Bolschewiki "zu einer Kritik mancher Gedankengänge des Marxismus selbst". So ist für Bloch die Marxsche Arbeitswertlehre nicht in der Lage, den Preis von Seltenheitsgütern zu erklären. Das mag uns heute abwegig erscheinen, war damals aber ein wesentliches Problem der Nationalökonomien, weil alle von Monopolen beherrschten Waren den Charakter von Seltenheitsgütern hatten. "Der Begriff der Ware und des Marktes, wie er bis 1914 galt, ist gestört, und mit ihm alle Gesetze der Warenproduktion". Und schließlich ist Bloch der Meinung, daß die ökonomischen Veränderungen nicht ausreichen, um aus ihnen geradlinig die Veränderungen des Überbaus in den kriegführenden Staaten zu erklären.

Schon in "Geist der Utopie" hatte Bloch angedeutet, daß Marx in seinen Analysen das Agrarproblem sträflich außer acht gelassen habe. Nun betont er, "daß Marxens wesentlich nur dem Industriesystem zugewandte Analyse den Agrarfeudalismus außer rechtem Kampf und Begriff gelassen hat." Diese Lücken im Marxismus haben nach seiner Meinung in der Sowjetunion dazu geführt, daß der "in Rußland glücklich erhaltene Rest bäurischer Gemeinfreiheit, kommunistischer Agrarwirtschaft" unter dem Beifall der Bolschewiki beseitigt wurde. Für Bloch ein Widersinn ohnegleichen.

Er schließt aus alledem einmal mehr, daß ein althergebrachtes Staatsverständnis die revolutionäre Entwicklung entscheidend hemmt. "Es ist den Kennern schrecklich klar, daß fortwirkendes Preußentum im Sozialismus diesen entweder endlos aufhalten würde oder daß Feldwebelei in Rot den Sozialismus 'realisieren' würde." Die politische Freiheit, so Bloch, kommt nicht automatisch mit der Revolution, sie muß erkämpft werden, sie ist durch nichts zu ersetzende Voraussetzung für ökonomische Freiheit. Notwendig wäre danach eine "Sprengung der Diktatur jeder Art, auch wo sie sich noch so revolutionär vorkommt, und in Wahrheit doch nur verlängerte preussische Organisation oder Zarismus ist."

Also was tun? Der Sozialismus in Deutschland muß her, davon war Bloch ja schon vorher überzeugt gewesen. In "Geist der Utopie" war es die Dreifaltigkeit von Judentum, Rußland und Deutschland gewesen, die den Sozialismus möglich machen sollte; während des Krieges entdeckte Bloch zwei weitere notwendige Elemente: den "magischen Willen" aus den USA und die "mystische Leichtigkeit" aus Frankreich; nun sind es nur noch die westlichen Völker, die das Licht der Revolution anzünden können.

Für Deutschland sieht Bloch schon 1918 die Gefahr, daß "das junkerlich-militärische Zwangs- und Obrigkeitswesen auch im marxistischen, totalen Fabriksystem weiter bestehen bleibt. Sozialismus ohne weitgehende Auflockerung der Verbände, ohne weitgehende Demokratie auch des Einzellebens ist lediglich ein Preußentum anderer Ordnung." Vor allem gilt für Bloch der Grundsatz, daß jedes Volk nur denjenigen Sozialismus zu erwarten hat, den es aufgrund seiner errungenen bürgerlichen Freiheiten verdient, schon hier. "1789 und nur 1789, kein Feudalismus und kein Gottesstaat, wird den Sozialismus, den echten mit tausendfach korrigiertem Marx, als Konsequenz haben: und die neu zu gewinnende wirtschaftliche Freiheit, Freiheit von Wirtschaftlichem, wird die großen Ideale der bürgerlichen Demokratie begeistert bewahren, wird sie nicht brechen, bespeien und in bolschewistischer Sozialdiktatur untergehen lassen, sondern zu den vollkommenen Idealen der sozialen Demokratie steigern." Und weiter: "Die Fahne der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wird uns in der Kantischen Ethik vorangetragen, zu einem Reich hinführend, in dem wahrlich kein Preussen und keine Obrigkeit, nicht einmal mehr in Deutschland, sondern allein noch die mystische Republik eines Verbands sittlicher Wesen besteht." Das Institutitonelle des Staates auf ein ökonomisch-soziales Minimum zu beschränken, das ist für Bloch eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Sozialismus, wenn nicht "totaler Staatssozialismus ohne Freiheit und Menschenziele" dabei herauskommen soll.

Dabei ist für Bloch ausgemacht, daß Marx und Engels die wesentliche Richtung für den Sozialismus angegeben haben, die diesem Konzept vorausliegenden ökonomischen Analysen setzt er als im großen und ganzen geleistet voraus. Darüber hinaus heißt Sozialismus: "Abbau des hochkapitalistischen, neufeudalen Kriegs-, Militär- und Staatszaubers von Gottes oder auch eines minderen Geistes Gnaden." Und das bedeutet auch den Wegfall jeder Kommandowirtschaft: "Nichts könnte falscher sein, als die bloße regimentshaft, reglementhaft planende Regelung des Konsums oder der Erzeugung mit der sozialisierten Gesellschaft zu verwechseln." Vielmehr: "In der echten sozialistischen Gesellschaft herrscht keineswegs durchgehende Diktatur: sondern nur das Wirtschaftssubjekt wird in dieser gebunden, die Person aber bleibt frei, und sowohl Engels wie zumeist auch Marx sind in diesem Sinn 'liberal', genug, noch bewegt vom Impuls der Französischen Revolution und Demokratie, um mit bloßem Staatspfaffentum nicht verwechselt zu werden." Bemerkenswert daran: Einen revolutionären Kampf mit Barrikaden und Blutvergießen hält Bloch für überflüssig, weil seiner Meinung nach die westlichen Völker sich allesamt einig sind über das gemeinsame Ziel. "Die freien Völker, durch steigend gemeinsamen Machtekel überraschend aus den Klassen herausgelöst, sehen sich nur noch mit schwachem Widerstand der eigenen göttlichen Dynamik preisgegeben." Wo in dieser Epoche Anzeichen eines kollektiven Machtekels und des daraus resultierenden kollektiven Willens zum internationalen Sozialismus auszumachen gewesen sein sollen, bleibt unerfindlich. Bloch hat hier eine seiner eklatantesten politischen Fehleinschätzungen abgegeben.


Zum Anfang

Aktualisiert:
© Ernst Bloch Assoziation

VorSchein-
Hauptseite