| von Eberhard Braun |
Die Blüte klassischen Denkens: Höhepunkt Aristoteles
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Ernst Bloch hat sich mit der antiken Philosophie ganz intensiv auseinander gesetzt, und zwar in ihrer ganzen historischen Breite, beginnend mit den Vorsokratikern bis hin zu den spätantiken Neuplatonikern, die Bibel eingeschlossen. Er las die griechischen und römischen Texte im Original, wie die Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie 1950 - 1956 (LV 1), aber auch sein intensives Studium der Scholastik (LV, NR) belegen. "Aristoteles ist nicht nur breiter, gelehrter, enzyklopädischer als Platon ... Aristoteles ist auch als Philosoph tiefer als Platon. Und er ist der, vor dem Karl Marx seine sämtlichen Hüte gezogen hat." (LV 1, 207) Aristoteles, der größte Philosoph der Griechen, ist für Bloch maßgebend. In seinen geschichtlichen Durchgängen läßt er die aristotelische Lehre nie aus, sei es in ontologischen Betrachtungen über die Schichten der Möglichkeit und die qualitative Zweckmäßigkeit der Natur, über die Ethik und die Politik. (PH, NW, EM) ."Das Aristotelische System nun ist das System der Entwicklung." (LV 1, 225) Wichtig ist: für Bloch bilden diese Schriften, wie lückenhaft auch immer sie erhalten sein mögen, ein System - susthma, ein nach Prinzipien Zusammengestelltes, ein Gestell, nach der Auslegung Martin Heideggers. Zum befremdenden Erstaunen hat Ernst Bloch in den "Zwischenwelten der Philosopiegeschichte. Aus Leipziger Vorlesungen" (ZW) Aristoteles, den antiken Höhepunkt, nicht aufgenommen. Sicher beabsichtigte er, in der Hauptsache nur das zur Sprache zu bringen, was in üblichen Philosophiegeschichten allzu stiefmütterlich behandelt oder gar vergessen worden war. Dem fielen die Schriften des Aristoteles als kanonischer Lehrbestand der ganz konventionellen Schulphilosophie, zum Opfer. In den nachgelassenen Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie geht Bloch alle vier Teile des Systems durch, Detail für Detail: erstens die Logik (später auch das Organon genannt), zweitens die theoretische Philosophie, beginnend mit der Physik und endend mit den Betrachtungen über den Himmel, das Weltganze, drittens die praktische Philosophie - Ethik und Politik - und viertens Rhetorik und Poetik. Er räumt der aristotelischen Philosophie breiten Raum ein, den größten innerhalb der Antike, ihrer herausragenden Bedeutung gemäß. |
Ein systematischer Blick auf Aristoteles mit scholastischer Brille
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Zu Aristoteles hat Bloch einen strikt systematischen Zugang, von der Entstehung und Entwicklung seiner Philosophie nimmt er kaum Notiz, obgleich er Werner Jaegers kurz gedenkt, der die moderne historisierende textkritische Aristoteles-Forschung erst eigentlich begründet hat. Bloch liest Aristoteles mit scholastischer Brille. Für Thomas von Aquin war er der Lehrer kanonischer Wahrheit. Philosophus dixit - der Philosoph hat gesagt. Gemeint war Aristoteles. Die Aristoteles-Kommentare des Heiligen Thomas waren systematisch ausgerichtet. Ergab sich Ungereimtes, suchte er harmonisierend Widersprüche auszuräumen. Bloch vergleicht Aristoteles mit Goethe, um seine Bedeutung zu veranschaulichen: "Stellen Sie sich vor, ein Mann namens Goethe wäre zu seinen Lebzeiten ganz unbekannt und gleich nach seinem Tod vergessen gewesen. Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, die Ihnen das verdeutlichen soll. Ein Literaturhistoriker hat so um 1830 oder 1840 erfahren, daß in Sesenheim noch eine uralte Frau lebt, die den Studenten Goethe und auch die Friederike gut gekannt haben soll. Er fuhr nach Sesenheim und traf die etwa neunzigjährige Frau gesund und rüstig an. 'Ja, ja', sagte sie, 'was gestern war, das weiß ich nicht mehr genau, aber an den Goethe, ja, an den erinnere ich mich: war ein hübscher Mensch aus Straßburg. Der ist gekommen aus Straßburg und hat der Friederike den Hof gemacht. Wir alle haben gedacht, er würde sie heiraten. Aber eines Tages hat sich dieser Goethe auf und davon gemacht bei Nacht und Nebel, und in der ganzen weiten Welt hat niemand mehr von ihm gehört ...' So wie die alte Frau von Sesenheim, so hat man sich zu Aristoteles verhalten." (LV 1, 216) Die Analogie greift kühn weit aus. Leute vom Fach werden Vorbehalte anmelden, aber der Vergleich leuchtet spontan ein. "Die Schriften des Aristoteles haben ein seltsames Schicksal gehabt. Ein Verwandter nahm sie an sich, einige Abschriften, mehr war nicht da. Später wurden sie von dem Erben des Verwandten verkauft, zu Geld gemacht. Es hat offenbar noch ein paar Leute gegeben, die sich dafür interessierten. Viel werden sie nicht gezahlt haben. Dann kamen die Kriegsläufte, der makedonisch-persische Krieg, und danach das Durcheinander der Diadochenstaaten. Die Schriften wurden, weil sie doch einen kleinen antiquarischen Wert zu haben schienen, von einem Antiquar oder Buchhändler irgendwo in Kleinasien in einer Höhle versteckt und gerieten völlig in Vergessenheit. Das berichtet wenigstens Plutarch". (LV 1, 216) |
Form, Stoff, Entelechie - der begriffliche Ertrag der Aristoteles-Deutung | Ernst Bloch hat vom größten Lehrer der Schule viel gelernt, auch dort, wo seine Theorie antiquiert erscheint: in der Lehre von der Zweckmäßigkeit der Natur. Der Mensch ist auf die Welt angelegt. Das versteht sich von selbst. Aber für Bloch gilt nach wie vor das Gegenteil: die Welt ist auf den Menschen angelegt - eine verwegene Behauptung gegen den Nihilismus, die These, daß die bisherigen obersten lebensfeindlichen Werte sich entwerten, aus der schwarzen Nacht der Jenseiterei ein sonnig strahlender Tag des Diesseits wird: ein Wanderer ohne Schatten. In einem eigenen Aristoteles-Buch hat Ernst Bloch nicht mehr die relevanten Kategorien kritisch bereitgestellt. |
Literaturhinweise |
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