Spuren, VorSchein

 Lehrstück

von
Gerd Koch

Lehrstück als dialektisch-experimentelle Gesellschafts-Pädagogik

  • EZ = Erbschaft dieser Zeit
  • PH = Prinzip Hoffnung
  • LA = Literarische Aufsätze

Ernst Bloch weist des Öfteren auf das Theater-Modell von Bertolt Brecht hin. Brecht hat einen Theater-Stück-Typus, nämlich das Lehrstück, entwickelt, das der Selbstverständigung 'arbeitender Kollektive' (Brecht) dienen soll. Vielleicht lässt sich sogar sagen, dass Bloch sein Modell einer dialektisch-experimentellen Gesellschafts-(Sozial-)Pädagogik an Bertolt Brechts Theaterversuchen entwickelt und exemplifiziert hat. "Das Brechtsche Theater besteht doch in Lehrstücken, auch wenn er (Brecht) ... das Wort nicht mehr gebraucht hat" (Bloch, nach einem Interview der 'Frankfurter Rundschau' vom 15.2.1975, S. III, zitiert nach Otto F. Best, Bertolt Brecht, Weisheit und Überleben, Frankfurt am Main 1982, S. 28.). Bloch betont bei Brechts Lehrstück-Theater als 'kollektiver Produktionsberatung' (Wittfogel) den Vorschlag-Charakter (Vgl. Reiner Steinweg, Das Lehrstück, Stuttgart 1972, S. 203; vgl. auch Richard Faber, Das Collage- Essay. Eine wissenschaftliche Darstellungsform, Hommage an Walter Benjamin, Hildesheim 1979.) für Aktivitäten innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und gegen sie.

Haltungsexperimente zum aufrechten Gang

Besonders wichtig ist, wie Bloch das Methodische, das ein- und ergreifende Wie der Brechtschen Theaterversuche, also die Haltung(en), rezipiert. Haltungsexperimente praktisch handelnd zu vollziehen, kann als eine Aufgabe des Brechtschen Lehrstücks verstanden werden. "Alles, schreibt Brecht, selbst unsere Lebensdauer , unsere 'materielle Existenz', hänge davon ab, daß wir zu 'einem Denken' kommen, das 'besser' ist als unser 'bisheriges' (...) 'Theaterspielen' habe in den Dienst des Lebens zu treten, um die 'Kunst zu leben (zu) verbreiten.'" (Reiner Steinweg, Das Lehrstück, Stuttgart 1972, S. 44.) Man muss dabei mit Bloch unter dieser wissenden und humanen Haltung die des aufrechten Gangs verstehen, die sich spielend erprobt.

Spielen statt Sehen Bertolt Brecht äußerte sich selbst über seine Theorie und Praxis des Lehrstücks. Zu "Die Maßnahme" sagt Brecht: "'Dieses Stück ist nicht zum Lesen gemacht. Dieses Stück ist nicht zum Ansehen gemacht'. 'Wozu denn?'. 'Zum Spielen. Zum Spielen unter sich'" (Bertolt Brecht nach Steinweg, a.a.O., S. 261). Und in Brechts "Zur Theorie des Lehrstücks" heißt es: "Das Lehrstück lehrt dadurch, daß es gespielt wird, nicht dadurch, daß es gesehen wird. Prinzipiell ist für das Lehrstück kein Zuschauer nötig, jedoch kann er natürlich verwertet werden. Es liegt dem Lehrstück die Erwartung zugrunde, daß der Spielende durch die Durchführung bestimmter Handlungsweisen, Einnahme bestimmter Haltungen, Wiedergabe bestimmter Reden und so weiter gesellschaftlich beeinflußt werden kann. Die Nachahmung hochqualifizierter Muster spielt dabei eine große Rolle, ebenso die Kritik, die an solchen Mustern durch ein überlegtes Andersspielen ausgeübt wird. (...) Es braucht sich keineswegs um die Wiedergabe gesellschaftlich positiv zu bewertender Handlungen und Haltungen zu handeln; auch von der (möglichst großartigen) Wiedergabe asozialer Handlungen und Haltungen kann erzieherische Haltung erwartet werden (...) Die Form der Lehrstücke ist streng, jedoch nur damit Teile eigener Erfindung und aktueller Art desto leichter eingefügt werden können" (Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 17, S. 1024).
Dialektik-Training Mit anderen Worten: Diejenigen, die mit Hilfe des Lehrstückspielens handelnd lernen wollen, diejenigen, die sich in ein soziales Experiment begeben, versuchen ihr dialektisches Denken und Handeln so zu trainieren: Erst einmal durch die kontroverse und nicht eindeutige Stückkonstruktion, die sie herausfordert, dann durch das Einbringen von eigenen Widerspruchserfahrungen aus der politischen Arbeit der Subjekte.
Bloch über Brechts Modellbildungen In einem späteren Interview ist Ernst Bloch noch einmal auf den Zusammenhang des Experimentierens mittels Lehrstück eingegangen, und er notiert wieder das generell Offene, das in Brechts Theatermodellen liegt. Brecht verwende "eine schwierige Methode, nämlich die, nie fertig zu sein, immer wieder Modelle zu bilden. Eines von Brechts Stücken heißt 'Der Jasager'. Brecht hat es aufführen lassen von Schulkindern. Für Schuljungen älteren Semesters aber hat er das Stück geändert und ihm einen neuen Titel gegeben: 'Der Neinsager', wo wieder alles verschoben war. Kracauer, der nicht besonders gut zu Brecht stand, hat eine boshafte Bemerkung dazu gemacht: 'Erst Jasager, dann Neinsager; nun, das nächste Stück' sagte Kracauer, 'wird heißen: der Vielleichtsager'. Darin lag eine schöne Bosheit (...) Also, Brecht machte es dem Publikum schwer. 'Was sagt er eigentlich?' Er sagt im nächsten Augenblick durch ein neues Modell das Gegenteil (...) Hier ist eine sonderbare Neigung zum Modellbilden, zum Mit-sich-reden-lassen, eine sonderbare Schwierigkeit des Versuchens und Experimentierens vorhanden (...) Das Experiment, das Modell hat Brecht also auf der Stelle angewandt ... Im Übrigen ist Brecht der politische Dichter, der die Politik aus der trivialen Höhe herausgebracht und Texte geliefert hat, die nie ganz zu Ende gesungen worden sind." (Bloch im Gespräch mit José Marchand 1974, in: Arno Münster (Hrsg.), Tagträume von aufrechten Gang, Frankfurt am Main 1977, S. 55f.)
Lehrstück-Idee und Blochs Methode

Bloch führte Bertolt Brecht in seinen eigenen Werkzusammenhang ein (direkt z.B. EZ 246ff im Kapitel "Romane der Wunderlichkeit und montiertes Theater, LA 282ff u. 392ff, PH 480ff im Kapitel "Die Schaubühne als paradigmatische Anstalt betrachtet und die Entscheidung in ihr"). Er hat seine Methode, auch sein gesellschaftsveränderndes Denken an Brechts Lehrstück-Idee präzisiert. Wichtig war Bloch die experimentelle Haltung eines Autors wie Brecht, bei dessen Experimenten es nicht primär darum geht, dass sie sich auf der Bühne erfüllen. Sie probten in der notwendigen Laborsituation des Schonraums Bühne, was sich außerhalb des kommunikativen Spielzusammenhanges erst realisieren können sollte. Es waren also Proben aufs Exempel, für die Wirklichkeit und Übungen in der Herausbildung von Tragfähigkeit bei den Subjekten im politisch-geselligen Alltagskampf.

Literaturhinweise
  • Bloch, Ernst: Edle Bereitung, Humaniora, Sozialerziehung, in: Pädagogica, Frankfurt am Mein 1971, S. 13ff.
  • Bloch, Ernst nach einem Interview der 'Frankfurter Rundschau' vom 15.2.1975, S. III, zitiert nach Otto F. Best, Bertolt Brecht, Weisheit und Überleben, Frankfurt am Main 1982, S. 28.
  • Claußen, Bernhard (Hrsg.): Texte zur politischen Bildung, Bd. 3, Frankfurt am Main 1990.
  • Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke, Bd. 17, S. 1024.
  • Koch, Gerd: Lernen mit Bert Brecht, (Erw. Neuaufl.), Frankfurt am Main 1988, S. 45ff.
  • Koch, Gerd u.a. (Hrsg.): Assoziales Theater, Köln 1983.
  • Koch, Gerd: Theaterpädagogische Prozesse als "Lebensgewinnunsprozesse" (Marx), in: Bernd Ruping, Florian Vaßen, Gerd Koch (Hrsg.), Widerwort und Widerspiel. Theater zwischen Eigensinn und Anpassung, Lingen/Hannover 1991, S. 324ff.
  • Münster, Arno (Hrsg.): Tagträume von aufrechten Gang, Frankfurt am Main 1977, S. 55f: Bloch im Gespräch mit José Marchand1974.
  • Steinweg, Reiner: Das Lehrstück, Stuttgart 1972, S. 203; vgl. auch Richard Faber, Der Collage- Essay. Eine wissenschaftliche Darstellungsform, Hommage an Walter Benjamin, Hildesheim 1979.
  • Steinweg, Reiner u.a.: Weil wir ohne Waffen sind, Frankfurt am Main 1986.
  • Steinweg, Reiner: Lehrstück und episches Theater, Frankfurt am Main 1995.
  • Windeler, Arnold, Bertolt Brechts Lehrstücke - ein Versuch, alltägliche Ausgrenzungen aufzuheben, in: Gerd Koch (Hrsg.) Experiment: Politische Kultur, Frankfurt am Main 1985, S. 199f.