Philosophie

 Immanenz/Transzendenz

von
Jan Robert Bloch

actio immanens und actio transiens


  • EM = Experimentum Mundi
  • PH = Prinzip Hoffnung

Immanenz bezeichnet das Innewohnen, das Einwohnen, das In-etwas-Enthaltensein. Immanent (lat. "darin bleibend") steht seit dem 13. Jahrhundert im Gegensatz zu transeunt oder transiens ("darüber hinausgehend"), neuzeitlich im Gegensatz zu transzendent (lat. "hinüberschreitend"). Eine wesentliche Quelle dieser Unterscheidung ist die aristotelische zwischen Handeln und Herstellen: zwischen einem Vollzug, der im Tätigen bleibt und ihn vollendet ("immanente" Vorgänge wie Denken, Sehen, Hören ...) und einem Vollzug, der vom Tätigen ausgehend über das Tätige hinausgreift und im Tätigen eine vorgegebene Materie zum vollendeten Werk gestaltet, mithin ein Novum in die Welt setzt und etwas manifestiert, was nicht mehr seinen Ort im Tätigen hat. Im aristotelischen Bezug wird somit eine Tätigkeit, die im Subjekt verbleibt (scholastisch: actio immanens), von einer unterschieden, die zur Werkgestaltung übergeht (scholastisch: actio transiens), indem vorgegebene Materie "formvollendet" ins Material gesetzt wird.

Aristoteles

Die aristotelische Quelle führt zur Kausalität von Materie und Form, zur Unterscheidung der Ursachen. Die immanente, bleibende Materialursache ist in jenem Marmorblock zu finden, der eine Hermesgestalt birgt, die vom Künstler befreit wird, die transeunte Materialursache hingegen bei jener Scheite, die im Holzfeuer verbrennt und somit ihr Material wechselt. Spätestens hier indessen beginnen die prototheoretischen Schwierigkeiten, denn eine transeunte Ursache ist eine, die nach außen geht - dies geschieht aber gleichermaßen (und eben nicht gleichermaßen) beim Holzfeuer wie beim ins Material gesetzte Werk. Indem die immanente, mithin die dem Marmorblock einwohnende Ursache zur Hermesgestalt emaniert, kommt in der Emanenz die Immanenz erst zu ihrem Ausdruck. Dies insofern cum grano salis, als die Immanenz in bedeutender Kunst "nicht bis zur formal-inhaltlichen Geschlossenheit getrieben" wird, die Immanenz "sich selber noch fragmenthaft gibt" und ein utopischer Hohlraum sich öffnet: "mit ungerundeter Immanenz: das selber bereits gestaltet Offene im großen Kunstwesen gibt das Material und die Form zu einer Chiffre des Eigentlichen" (Ernst Bloch). Damit ist der eingangs angeführte Gegensatz zwischen "immanent" und "transeunt" auf eine andere Ebene gehoben.

Kant

Diese andere Ebene wird durch Kants terminologischer Neufassung des Paares "immanent/transzendent" eingeführt: der Gebrauch von Verstandesbegriffen, Kategorien und Grundsätzen heißt immanent, sofern er sich "ganz und gar in den Schranken möglicher Erfahrung hält". "Transzendent" hingegen bezeichnet die Überschreitung, das Überfliegen der Schranken aller möglichen Erfahrung, womit das übersinnliche Reich in den "Träumen eines Geistersehers" betreten wird. Philosophisch gedreht und gehoben wird die Kategorie der Überschreitung im Begriff "transzendental", das nicht etwas bedeutet, was über alle Erfahrung hinausgeht, sondern etwas, was ihr zwar vorhergeht, indessen zu nichts anderem bestimmt ist als Erfahrungserkenntnis möglich zu machen - mithin der apriorische Bedingungszusammenhang aller Erfahrung überhaupt. Der Apriorismus ist hierbei kein chronologisches oder psychologisches Merkmal, sondern ein erkenntnistheoretisches: er meint nicht ein zeitliches Vorher vor der Erfahrung, sondern eine über alle Erfahrung hinausgehende und durch keine Erfahrung begründbare Allgemeinheit und Notwendigkeit der Geltung von Vernunftprinzipien.

Transzendentale Einheit der Apperzeption

Diese "transzendentale Einheit der Apperzeption" ist eine apriorische des Selbstbewußtseins, ohne die die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen, Erfahrungen, Erkenntnisse im Menschen und in der Menschheit ein unverbundenes Nebeneinander wäre: eine mehrmilliardenfache Sammlung von, neukantianisch gesagt, einzelnen Ikonen ohne jegliche nomothetische Vermittlung untereinander. Die transzendentale Einheit hat dadurch einen rückbindenden Charakter: das Aprioriinventar als formae intelligibles hat nämlich als letzte Instanz die formale Logik, aus deren Urteilstafel die apodiktisch gültigen Kategorien abgeleitet werden. Dieses Inventar erfüllt sich im logischen Zentrum, im Zentrum der allgemeinen reinen Gesetze des Verstandes und der Vernunft überhaupt. Die Einheit von formaler und transzendentaler Logik bedeutet auch: Immanenz, bedeutet auch: Kontingenz. Dieses rückbindende Motiv wird auch an Hegels Philosophie kenntlich, indem sie die Dialektik als einen Prozess immanenten Transzendierens konzipiert.

Transzendentalethik

Anders ist dies freilich in der Transzendentalethik, in der das "Reich intelligibler Wesen" antizipiert wird, in dem Kants mechanisch-kausaler Heros Isaac Newton keinen Platz hat. Der sittlich handelnde Mensch ist nicht wie das empirisch erfahrende Subjekt in den deterministischen Zusammenhang endlicher Wesen gestellt, sondern wird als freier Bürger entworfen - denn ohne Freiheit gibt es weder sittliche Handlung noch Verantwortlichkeit. Indem die ideale Menschheit in das Subjekt gedacht wird, wird zugleich mit dem kategorischen Imperativ das Gegebene überschritten.

Marxistische Eschatologie

Diese auf ein Novum gehende, gerichtete Bedeutung prägt den Terminus "Transzendenz" in der marxistischen Eschatologie, womit er doppelt sprengt: zum einen systemimmanente Verdinglichungen im Marxismus selber, zum zweiten die Überweltlichkeit der Theologie, so sie das Novum in eine jenseitige Welt inszeniert. Mit dieser prometheischen Bedeutung bekommt die "Immanenz" jene Tönung, die sie antagonistisch setzt: als schlechte Wirklichkeit, die es zu überholen gilt. Indem etwa Theodor W. Adorno von der verdinglichten Gesellschaft spricht, vom "ausweglos dichten Gewebe der Immanenz", erfährt der Begriff der "Transzendenz" nur mit dem der Verdinglichung seinen positiv übersteigenden wie auch kritischen Sinn. Eine solche Immanenz verbreitet Schrecken. Ernst Bloch hat sie beschrieben anhand George Seurats pointillistischem Sonntagsbild "Un dimanche à la Grande-Jatte": als Mosaik von Langeweile, Ohnmacht und mißlungener Muße ohne Erfüllung, als gemaltes Abbild des glücklosen Nichtstuns und der trügerischen Ruhe - von quälender Leere, von falschem Frieden (PH 952ff).

So das Einwohnende nur bei sich bleibt, mithin an sich selber genug ist, wird die Transzendenz zum Gegenpol der Immanenz. Indessen wohnt dem Immanenten das Transzendente bei, da auch der Immanenz die Ankunft bei sich selber mangelt. Die Bewegungen von Immanenz und Transzendenz sind dergestalt untereinander vermittelt, daß die Transzendenz die Immanenz im Kontinuum expandiert, im Diskontinuum explodiert und so zur neuen Eigentlichkeit treibt - womit das Novum in der Immanenz geboren wird, die Beiwohnung zur Geburt führt.

Subjekt = Prädikat

Das hier einschlägig Gemeinte wird bei Ernst Bloch erörtert in seinem Kommentar zur formal-logischen Urteilsform "S ist P", nach der das zu bestimmende Subjekt durch die Kopula mit dem bestimmenden Prädikat verknüpft wird: "Der wirkliche, nämlich ideologische Rest innerhalb der Formel S ist P zeigt sich in dem hemmenden Mißverstehen der Kopula als eines logisch präformierten ausgemachten "Seins" der Sache. Als brächte das mit dem logischen Subjekt verbundene Prädikat nichts anderes heraus als das im logischen Subjekt schon voll enthaltene, und nicht als fügte das bestimmende Prädikat dem doch erst zu bestimmenden Subjekt, dem im Es doch nur angelegten, eine entwickelte Bestimmung hinzu. Indem aber das Ist der Kopula als statisches Sein mißverstanden wird, ... wird dem Subjekt durch das Kopula-, dann durch das Prädikatsein jeder Ort des Werdens versperrt. Eine Urteilsform entwicklungsgeschichtlicher, synthetisch vermehrender Art, ausgedrückt durch die schlagende Formel "S ist noch nicht P", wirkt bei solchem Kopula-Mißverständnis deshalb wie von Haus aus irregulär und formal ununterbringbar." (EM 40f)

Will in unserem Zusammenhang heißen: im Immanenten ist ein prädikativ noch Unausgemachtes, das mittels der Transzendenz in dialektischer Brechung mit ihr ans ureigene Licht kommt: als tertium datur der synthetisiert höheren Ankunft. Die Subjekthaftigkeit des Einwohnenden, seine pränatale Grundstruktur, harrt der Bestimmung und eine "Prädikatenlogik" utopischer Art gibt der Transzendenz die Bedeutung einer innerweltlichen Bewegung des Immanenten zu sich selber.

Einwohnung der Möglichkeit in der Materie

Der obige aristotelische Bezug trifft auch hier, ist doch der transitorische Prozeß zur Erzeugung des Novum eine Verwirklichung des Immanenten im Stoff. Die Nuance der prima materia besteht darin, daß sie zwar bestimmungslos ist, ein formloses Wachs gewissermaßen, indes der Möglichkeit nach der Gestaltung fähig ist: sie ist das "In-Möglichkeit-Seiende" - ein formloses Wachs zwar, indes eines, das dem Siegel ermöglicht, sich auszudrücken. Die Möglichkeit, auf Wachs eine Petschaft zu prägen, ist im Wachs enthalten, die Möglichkeit, zum Mond zu fliegen, nicht. Das Bestimmungslose ist somit nicht ohne Gesetz. Die Assoziation zum "deterministischen Chaos" liegt nahe, da nichtlineare Systeme im dynamischen Prozess ein Ensemble von distinkten Möglichkeiten durchschreiten, um sich schließlich in einer höheren, aber nicht beliebigen, Ordnung zu stabilisieren. Dies "Enthalten-Sein" ist die Einwohnung der Möglichkeit in der Materie, dem Mutterschoß des Werdenden, des Novum. Die Verwirklichung der Möglichkeit, die Ausprägung der Petschaft im Wachs, erzeugt die zweite Materie, die geprägte Form, in der Wachs und Siegel eigentlich werden.

Novum und Ultimum

Das emergierende Novum wiederum transzendiert sich selber dergestalt, daß es als Novum nicht sich selbst genug ist (was seiner verdinglichten Verkapselung gleichkäme), sondern den Vorschein eines Ultimum in sich trägt - als Vorbote des möglichen summum bonum, als These einer dialektischen Theologie. Das Ultimum hierbei ist kein vorgegebenes Ultraviolett, sondern ein emergent im dialektischen Gang des Widerspruchs entstandenes. Sein Voranziehendes ist evident im kantischen Sinne: als anschauende Gewißheit, die keines Beweises bedarf. Das Novum wehrt sich gegen die Vollendung: ohne utopischen Ränder wäre es keins. Es bewegt sich im unendlichen Progreß hin zum antizipierten Advent, zur Ankunft ohne Ankunft: Endstation Sehnsucht. Was der Kunst gilt (von der Goethe sagt: "Immer gerundet, nie geschlossen"), gilt der prometheischen Bedeutung in der Emergenz des Neuen: das Neue ist offenes Zeichen der ausstehenden Entelechie, gleichsam eine Epiphanie, eine irdische, auf Gottheit weisende Erscheinung.

Prometheus und Epimetheus

Zugleich ist das Neue lehrreich bedroht in Art des "docta spes", der geprüften, kundigen, belehrten und somit gelehrten Hoffnung: zum Prometheischen gesellt sich das Epimetheische, das Bedenkende und damit auch Erhaltende. Das faustische "Verweile doch, Du bist so schön", das nie und nimmer sich begeben soll, enthält das Verweilen - als Prüfzeit des Neuen, das in die Welt gesetzt wurde, in der Welt sich bewähren soll. Das brüderliche Paar Prometheus und Epimetheus heißt in den Termini der "Selbstorganisation" im übrigen Erstmaligkeit und Bestätigung. Das Dunkel des gelebten Augenblicks schützt vor der Vollendung, bewahrt im Dunkeln mit rotgoldnem Lichtrand den transitorischen Zug zum Ultimum.

Emergenz des sich überschreitenden Novum

Insofern begründet das Ineins-Setzen, das Ineinander von Immanenz und Emergenz die Emergenz des sich überschreitenden Novum. Hölderlin, chiliastisch gelesen, führt zu dem erkennenden Satz der Erfahrung "Wo das Rettende wächst, wächst auch die Gefahr." Im Novum steckt solchermaßen dreierlei: seine Beschränkung, seine Bedrohung (durch Widersacher oder entropischen Untergang im Rauschen nach dem "Gesetz der großen Zahl" - womit jede Möglichkeit vergeben ist) und schließlich sein Bedrohendes selber, das in ihm mögliche, ihm implizite summum pessimum: das Faschistische des Erwachens, der Terror der Stalinzeit.

Beschränkt ist es, wiederum mit Aristoteles, auch kantisch, durch die partialen Bedingungen der Möglichkeit, durch das "Nach-Möglichkeit-Sein" der geformten, der zweiten Materie, das dem weiträumigen "In-Möglichkeit-Sein" der ersten folgt, sie begleitet und hemmt. Die so beschränkte Entelechie zeigt die gravitätischen Seiten der Materie-Möglichkeiten - auch im Sinne des Satzes Marxens, nach dem der Geist vom Fluch beladen ist, mit Materie behaftet zu sein.

Verzweigungsort Immanenz/Transzendenz Was in der Immanenz schlummert, erfährt Befreiung, Entäußerung an der kritischen Schwelle zur Verwirklichung durch Transzendenz. Am Verzweigungsort Immanenz/Transzendenz wird neu entworfen, ja der neue Entwurf ist Merkmal dieses Ortes: mit der Ankunft der neuen Gestalt in der Welt wird er kenntlich. Hierbei ist diese Kenntlichkeit keine vorfindliche Option, sondern: am und im Verzweigungsort wird das Novum erzeugt. Dies steht im Einklang mit einer Emergenztheorie, die über die Ereignisbeschreibung dessen hinaus, was am Bifurkationsort geschieht, in diesem die Hervorbringungen untersucht. Das System schafft am Bifurkationsort Möglichkeiten, die vordem nicht existierten. Es werden also nicht vorhandene systemische Möglichkeiten von vornherein ausgewählt, sondern ein Feld der Möglichkeit ermergiert in statu nascendi. Ein Möglichkeitsraum wird aufgespannt, der in nuce am Ort entsteht. Eine solche mikrosystemische Untersuchung des Ereignisortes gleichsam mittels einer "Bifurkationslupe" markiert den Übergang von einer Phänotheorie der Selbstorganisation der Materie zu einer Tiefentheorie der Emergenz.
Kairos und Chronos Die Ankunft des Novum ist in Kairos getaucht: es wird nicht vom Chronos, vom formalen Zeitkontinuum begleitet, sondern bricht ein als Unbedingtes, das in einem bestimmten Moment der Geschichte entscheidend in die Welt eintritt. Der Kairos liegt außerhalb temporaler Sphären: das "O, welch ein Augenblick" Pizarros in Beethovens "Fidelio" entzieht sich der Chronotopie.
Literaturhinweise
  • Bloch, Jan Robert: Die Natur der Gesetze, die Gesetze der Natur: zum gesellschaftlichen Ursprung des natur-wissenschaftlichen Systems und seiner Quelle in der Natur selber [1994]
  • Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Suhrkamp, Frankfurt 1970
  • Erich Jantsch: Die Selbstorganisation des Universums. dtv, München 1982
  • Peter Eisenhardt, Dan Kurth, Horst Stiehl: Du steigst nie zweimal in denselben Fluß. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1988